Menschenversuche, Zwangssterilisationen, Krankenmorde: In der NS-Zeit haben die Medizinischen Fakultäten an deutschen Universitäten ihre Lehre und Forschung auf die nationalsozialistische „Rassenhygiene“ und Gesundheitsideologie ausgerichtet. Eine vom Präsidenten der Université de Strasbourg beauftragte unabhängige Historische Kommission hat jetzt die Medizin-Geschichte der „Reichsuniversität Straßburg“ von 1941-1944 untersucht. Einige Schicksale der KZ-Häftlinge, die dort für kriminelle Menschenversuche missbraucht wurden, sind auch bei den Arolsen Archives dokumentiert.

Am 15. Juli 1943 untersucht ein SS-Arzt im Konzentrationslager Auschwitz die Jüdin Jeanette Passmann und 85 weitere jüdische Häftlinge auf ihre körperliche Gesundheit. Was die Menschen bei der Untersuchung noch nicht wissen und wahrscheinlich auch später nie erfahren haben: Zwei Anthropologen, die Auschwitz im Auftrag des Straßburger Anatomieprofessors und SS-Arztes August Hirt besuchten, hatten sie zuvor für ein grausames Projekt ausgewählt: Hirt plante eine Skelett-Ausstellung über „die jüdische Rasse“.

 

86 Morde für die „Jüdische Skelettsammlung“

Jeanette ist mit 67 Jahren die Älteste der „für die jüdische Rasse exemplarischen“ Frauen, die für diese Ausstellung ermordet und seziert werden sollen. Sie wurde 1876 in Gelsenkirchen geboren und zog mit ihrem Mann schon in den frühen 1930er Jahren in die Niederlande um. Dort wird sie im April 1943 verhaftet, nach Auschwitz deportiert und kurze Zeit später mit 28 weiteren Frauen und 57 Männern für die Straßburger Ausstellung bestimmt. Die SS transportiert die 86 Häftlinge Anfang August 1943 ins Konzentrationslager Natzweiler in der Nähe von Straßburg und ermordet sie in der dortigen Gaskammer.

 

Ein Seziertisch, den die Straßburger Ärzte im KZ Natzweiler benutzten, ist heute noch in der Gedenkstätte erhalten. (Foto: Centre Européen du Résistant Deporté / Struthof)
In diesem KZ-Gebäude wurde auf Wunsch der Straßburger Ärzte eine Gaskammer eingerichtet. (Foto: Centre Européen du Résistant Deporté / Struthof)

Menschenversuche im KZ Natzweiler

Von 1941 bis 1944 führten Ärzte der „Reichsuniversität Straßburg“ im nahe gelegenen KZ Natzweiler barbarische medizinische Versuche an Häftlingen durch. In einer eigens eingerichteten Gaskammer mussten die Menschen Experimente mit Giftgas über sich ergehen lassen, wobei acht Häftlinge ihr Leben verloren. Es gab auch Versuchsreihen mit ansteckenden Krankheiten wie Fleckfieber, Gelbfieber oder Hepatitis.

 

Aufarbeitung lange Zeit versäumt

August Hirt realisierte seine Ausstellung nie, aber die Alliierten fanden die sterblichen Überreste der dafür ermordeten Häftlinge kurz nach der Befreiung Straßburgs in den Universitätsgebäuden. Sie wurden auf dem jüdischen Friedhof in Strasbourg beigesetzt. Seither war dieses grausame Verbrechen bekannt. In der Nachkriegszeit gab es zudem Gerüchte über die Verstrickungen der Medizinischen Fakultät mit dem KZ Natzweiler – und über noch existierende Humanpräparate aus den Menschenversuchen in der NS-Zeit. Dennoch wollte die Universität Straßburg dieses Kapitel ihrer Geschichte lange Zeit nicht aufarbeiten und zog eine klare Trennung zwischen der Hochschule vor und nach der NS-Besatzung und der Zeit als Reichsuniversität.

 

Leichenteile von KZ-Häftlingen entdeckt

Die Wende brachte im Jahre 2015 der aufsehenerregende Fund eines Historikers. Er spürte in der rechtsmedizinischen Sammlung der Universität Humanpräparate von einem der Häftlinge auf, die 1943 für August Hirts Ausstellung ermordet worden waren: Menachem Taffel war ein aus Polen stammender Jude, den die Nazis 1943 aus Berlin deportierten. Er war das erste Opfer dieses Verbrechens, das (anhand einer eintätowierten Häftlingsnummer) identifiziert werden konnte. Sein Name ist auch auf einer Deportationsliste von Berlin ins KZ Auschwitz verzeichnet, die bei den Arolsen Archives aufbewahrt ist.

 

Zur Erinnerung an Menachem Taffel wurde am L’hôpital civil in Straßburg eine Straße nach ihm benannt – der „Quai Menachem Taffel“. (Foto: Wilfred Helmlinger)

 

Nach diesem Vorfall richtete der Präsident der Université de Strasbourg eine internationale und unabhängige Historische Kommission aus 13 Wissenschaftler*innen ein, die die Geschichte der Medizinischen Fakultät der „Reichsuniversität Straßburg“ von 1941 bis 1944 umfassend durchleuchten sollten. Die Universität wollte vor allem klären, ob sich noch Humanpräparate von NS-Opfern in den medizinischen Sammlungen der Medizinischen Fakultät befinden. In diesem Sommer hat die Kommission einen 500-seitigen Bericht vorgelegt, der viel Licht in die dunkle Vergangenheit der Medizinischen Fakultät brachte.

 

Die Wissenschaftler*innen der Kommission haben über 1.000 Objektträger mit Gewebeproben einer für Lehr- und Forschungszwecke angelegten Sammlung von August Hirt untersucht...
… sowie Tausende unbekannte Akten der Medizinischen Klinik aus der NS-Zeit wiederentdeckt, klassifiziert und gesichert. (Fotos: Université de Strasbourg )

Wichtige Erkenntnisse

In den Sammlungen mit histologischen Schnitten (Gewebeproben), die zwischen 1941 und 1944 entstanden sind, hat die Kommission keine Präparate gefunden, für die Leichenteile von KZ-Opfern verwendet wurden. Aber die Wissenschaftler*innen identifizierten histologische Schnitte, die August Hirt während seiner Tätigkeit an der Universität Greifswald von zwei zum Tode verurteilten Mördern nach deren Hinrichtung hergestellt hatte.

 

Auch Kriegsgefangene für Experimente benutzt

Unter anderem fand die Kommission neue Hinweise zu rund 130 Menschen, an denen ohne ihr Einverständnis Experimente durchgeführt wurden. Vor allem untersuchten die Historiker*innen aber die Beziehungen zwischen der Medizinischen Fakultät der „Reichsuniversität Straßburg“ und dem Konzentrationslager Natzweiler. Sie wiesen eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Einrichtungen nach. Zu diesem Thema haben die Mitglieder der Kommission auch eine Ausstellung erarbeitet, die jetzt in der KZ-Gedenkstätte Natzweiler (Centre Européen du Résistant Deporté) gezeigt wird.

 

Die Ausstellung in der Gedenkstätte zeigt die Verflechtungen des KZ Natzweiler mit der „Reichsuniversität Straßburg“ und stellt Biografien der Opfer von Menschenversuchen vor, um an sie zu erinnern. (Foto: Centre Européen du Résistant Deporté / Struthof)

 

Auch die 40 Opfer einer Versuchsreihe mit Phosgen (ein im Ersten Weltkrieg als Kampfstoff verwendetes Giftgas) im KZ Natzweiler hat die Kommission lückenlos identifiziert – und nachgewiesen, dass insgesamt acht Häftlinge an den Folgen starben. Dafür dienten auch individuelle Häftlingsunterlagen aus den Arolsen Archives als wichtige Quelle. Zudem fanden die Wissenschaftler*innen heraus, welche Häftlinge des KZ Natzweiler nachweislich an Senfgas-Experimenten teilnehmen mussten. Eine weitere neue Erkenntnis ist, dass Ärzte der Reichsuniversität mehr als 250 russische Kriegsgefangene aus einem Straßburger Lazarett für medizinische Experimente missbrauchten. Derzeit erforscht eine Doktorandin zudem noch die Vergangenheit der Psychiatrischen Klinik und ihrer Opfer in der NS-Zeit.

 

Biografische Website

Zu den Biografien der Opfer, der Täter und weiterer mit der Medizinischen Fakultät und dem Straßburger Bürgerspitals verbundenen Menschen entsteht derzeit eine Website, für deren Inhalte die Historiker*innen der Kommission auch bei den Arolsen Archives recherchiert haben.

Zur Webseite

NS-Zeit gehört zur Universitätsgeschichte

Die Historiker*innen der Kommission fanden zudem heraus, dass viele Elsässer*innen während des Krieges in der Medizinischen Fakultät weitergearbeitet haben. Es gab also keinen absoluten Bruch durch die NS-Besatzung und die Gründung der „Reichsuniversität“, wie dies lange angenommen wurde. Florian Schmaltz (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin), der die Historische Kommission zusammen mit Paul Weindling (Oxford Brookes University) geleitet hat, ist sich sicher, dass gerade auch diese Erkenntnisse zu einem Umdenken geführt haben:

 

»Die Université de Strasbourg will künftig einen Gedenkort für die Opfer auf ihrem Campus errichten und an die Geschichte der ›Reichsuniversität Straßburg‹ als Teil ihrer eigenen Universitätsgeschichte erinnern.«

Florian Schmaltz, Max-Plack-Institut für Wissenschaftsgeschichte
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