Mit seinem Projekt „Dimenticati di Stato“ (dt. Vergessene des Staats) sucht der Italiener Roberto Zamboni seit fast drei Jahrzehnten nach den sogenannten „italienischen Militärinternierten“, die in deutscher Gefangenschaft starben. Sie wurden ohne das Wissen ihrer Angehörigen in Deutschland, Österreich und Polen begraben.

Nachdem Italien im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen hatte, nahm die Wehrmacht rund 600.000 italienische Soldaten in Gefangenschaft. Die Männer wurden als sogenannte „Militärinternierte“ nach Deutschland deportiert und mussten Zwangsarbeit verrichten. Etwa 50.000 wurden ermordet oder starben aufgrund der Haftbedingungen.

Ein Weg aus der Zwangsarbeit gab es nur für diejenigen, die sich der Wehrmacht anschlossen. Doch das lehnten drei Viertel der inhaftierten italienischen Soldaten ab. Durch ihren besonderen Status und die lange fehlende Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten, blieb ihr Schicksal häufig ungeklärt und ihre Familien wussten nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen.

 

Die SS deportierte Luciano Zamboni 1945 in ein KZ

So erging es auch der Familie Zamboni. Luciano Giovanni Zamboni wurde am 16. Dezember 1944 von den Schwarzen Faschistischen Brigaden in Verona verhaftet. Am 12. Januar 1945 deportierten ihn die SS ins deutsche Konzentrationslager Flossenbürg. Er erlebte die Befreiung des Lagers durch die US-amerikanischen Truppen, verstarb jedoch kurz danach am 4. Mai 1945 im Lager.

Im Interview erzählt uns sein Neffe Roberto Zamboni alles über die Suche nach seinem Onkel und wie ihn das persönliche Schicksal dazu motivierte, andere italienische Familien bei der Suche nach ihren Angehörigen zu unterstützen und so an die Opfer zu erinnern. Geholfen hat ihm dabei auch das Online-Archiv der Arolsen Archives.

 

»Niemand sprach freiwillig darüber, denn die Erinnerung riss eine Wunde auf, die nie ganz verheilt war. Erst meine Mutter erzählte mir, was mit Onkel Luciano geschehen war.«

Roberto Zamboni, Neffe von Luciano Giovanni Zamboni

 

Wie kam es überhaupt zur Suche nach Ihrem Onkel – wussten Sie etwas über seine Vergangenheit?

Schon als Kind hatte ich von einem Onkel gehört, der von den Deutschen verschleppt und in einem Konzentrationslager ermordet wurde. Ich hatte von meiner Großmutter, einer Tante und manchmal von meinem Vater davon gehört. Niemand sprach freiwillig darüber, denn die Erinnerung riss eine Wunde auf, die nie ganz verheilt war. Erst meine Mutter erzählte mir, was mit Onkel Luciano geschehen war. Nach der Wehrpflicht wurde er 1942 vorläufig unbefristet beurlaubt und am 8. September 1943 einberufen. Danach war alles sehr verwirrend. Sicher war nur, dass er in einem deutschen Konzentrationslager gelandet und nie zurückgekehrt war.

Ich beschloss das Geschehene und seine letzten Lebensmonate zu rekonstruieren, um seine Überreste nach Hause zu bringen. Kurz vor ihrem Tod, konnte meine Mutter die Schachtel mit den sterblichen Überresten entgegennehmen.

 

Viele Angehörige wussten nichts von den Ehrenfriedhöfen

Wie sind Sie dann zu ihrem großen Suchprojekt gekommen?

Das Projekt „Dimenticati di Stato“ (dt. Vergessene des Staates) begann ich Ende der 1990er Jahre mit dem Ziel, das Schicksal von mehr als 16.000 Toten aufzuklären, die zwischen 1940 und 1946 in Deutschland, Österreich und Polen in Gefangenschaft oder an den Folgen des Krieges starben. Wie auch meine Familie wussten die meisten Angehörigen nicht, dass ihre Lieben vom italienischen Generalkommissariat für die Ehrung gefallener Soldaten auf Ehrenfriedhöfen bestattet worden waren. Sie galten als „verschollen“. Neben den Soldaten wurden vom Generalkommissariat auch die sterblichen Überreste von zivilen Deportierten geborgen, die in den Tagen der Befreiung der Lager oder während der Todesmärsche gestorben waren und auf den Friedhöfen begraben. Auf sechs Kriegsfriedhöfen wurden 16.079 Italiener*innen bestattet. Darunter waren 151 Frauen, 46 Säuglinge und Kinder unter 13 Jahren und 95 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren.

Ab März 2009 begann ich, die Liste aller italienischen Toten zu katalogisieren, zu digitalisieren und online zu stellen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die von mir erstellten Listen (über 16.000 grundlegende Namen und über 13.000 davon verifiziert und abgeglichen) die erste vollständig veröffentlichte Liste von Italiener*innen, die in Gefangenschaft oder an den Folgen des Krieges gestorben und in Österreich, Deutschland und Polen begraben wurden.

 

Viele Familien wussten lange nicht, dass ihre Angehörigen auf Ehrenfriedhöfen begraben wurden – wie hier in München.

 

Wie sind Sie bei der Suche vorgegangen?

Mein erster Anhaltspunkt bei der Suche war das italienische Verteidigungsministerium. Später arbeitete ich mit öffentlichen Namenslisten aus lokalen und überregionalen Zeitungen, die mich zu den Geburtsorten der Soldaten führte. Dann informierte ich die Stadtverwaltungen. Ich erklärte ihnen den Zweck meiner Nachforschungen, schickte ihnen die Daten der Gesuchten und bat sie, die Familien über den Ort der Bestattung zu informieren und sie über die Möglichkeit hinzuweisen, die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu repatriieren. Einige Jahre später wurde die erste Website dazu veröffentlicht.

 

Was sind die größten Probleme bei der Suche nach Angehörigen und der Überführung nach Italien?

In den frühen 1990er Jahren war es sehr kompliziert, Informationen über Verstorbene zu finden. Alles wurde auf dem traditionellen Postweg erledigt. Es konnten Wochen oder Monate zwischen einer Anfrage und einer Antwort vergehen. Die Forschungsarbeit war also sehr anspruchsvoll und teuer. Wenn die Suche mehr als eine verstorbene Person betraf, wurde sie noch viel komplizierter. Zusätzlich wollte mir das italienische Verteidigungsministerium zunächst keine Informationen zu den Opfern des Krieges aushändigen, mit der Begründung, eine solche Initiative könne nicht einer Privatperson anvertraut werden.

 

Die Rückführung der Toten war lange verboten

Ein Hauptproblem bei der Rückführung gefallener Soldaten war außerdem ein Gesetz aus dem Jahr 1951, das dies kategorisch untersagte. In Artikel 4 Absatz 2 des Gesetzes vom 9. Januar 1951 heißt es: „Die vom Generalkommissar endgültig bestatteten Leichen können den Angehörigen nicht mehr überlassen werden“. In der Überzeugung, dass dieser absurde Gesetzesartikel geändert werden muss, richtete ich mich am 15. Dezember 1997 in einem Antrag an den damaligen Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Luciano Violante. Innerhalb von zehn Monaten wurde meinem Ersuchen entsprochen, das Gesetz wurde geändert und trat am 14. Oktober 1999 in Kraft. Leider müssen die Kosten einer Überführung noch selbst von den Betroffenen getragen werden. Mehrere Petitionen meinerseits dagegen blieben bisher erfolglos.

 

Lucianos Grabstein auf dem Ehrenfriedhof in München
Dieses Dokument bestätigt die Bestattung Luciano Zambonis auf dem Gelände des KZ Flossenbürg.

Ein Gesetz verbot die Rückführung

Viele der Opfer wurden unmittelbar nach dem Krieg auf städtischen Friedhöfen oder in der Nähe der Lager begraben. Dass sie einige Jahre später auf Ehrenfriedhöfe verlegt worden sind, wussten die Angehörigen nicht. Das italienische Gesetz verbot zusätzlich die Rückführung nach Italien. Durch die Bemühungen von Roberto Zamboni wurde das Gesetz geändert.

 

Wie konnten die Arolsen Archives Ihnen bei ihrer Arbeit helfen?

Als Provinzialrat der Nationalen Vereinigung ehemaliger Deportierter in Verona (ANED) und Enkel eines in Flossenbürg verstorbenen Deportierten, bin ich mit den Arolsen Archives sehr vertraut. Mein Großvater wandte sich 1964 zum ersten Mal an Ihr Archiv, um Informationen über meinen Onkel zu erhalten. Auch ich habe mich noch mehrfach an das Archiv gewandt und habe immer alle gewünschten Dokumente erhalten. Ich bin mir der umfangreichen Dokumentation bewusst und habe die Arolsen Archives immer als „Gedächtnisbank der Deportation“ verstanden.

Als ich erfuhr, dass das gesamte Archiv digitalisiert und online gestellt werden sollte, um es für alle zugänglich zu machen, hat mich das sehr gefreut. Seit ich die Website „Dimenticati di Stato“ eingerichtet habe, erhalte ich fast täglich Anfragen von Angehörigen der Gefallenen, die Informationen über die Inhaftierung ihrer Angehörigen suchen. Für die Aufklärung nutze ich auch regelmäßig die Datenbank der Arolsen Archives.

Neben den „Dimenticati di Stato“ habe ich in Zusammenarbeit mit der ANED Verona eine Informationsseite veröffentlicht, die Auskunft über Veroneser gibt, die deportiert worden sind. Für die Veröffentlichung der Dokumente auf dieser Website waren die Arolsen Archives eine unschätzbare Quelle.

 

#everynamecounts ist ein „Beispiel für andere Archive“

Mit #everynamecounts bauen wir ein digitales Denkmal – wie wichtig ist für Sie das digitale Archiv?

Wenn ich etwas mehr Zeit hätte, würde ich mich sicherlich daran beteiligen. Ich denke, dass dieses Projekt, das auf freiwilliger Basis mit der Hilfe vieler junger Menschen umgesetzt wird, als Beispiel für andere Archive dienen sollte. Wie so oft, klappt es mit der Freiwilligenarbeit am besten, weil sie mit Leidenschaft, mit dem Herzen gemacht wird.

Ich glaube, dass die Vernetzung von Materialien und Dokumenten, die sonst in Archiven verschlossen bleiben, der beste Weg ist, um die Menschen zu ermutigen, etwas über unsere gemeinsame Vergangenheit zu lernen und dafür zu sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Das klingt wie ein Klischee, aber ich bin davon überzeugt.

 

Die Seite „Dimenticati di Stato“ wurde bis heute von über 450.000 Personen besucht. Sie ist für viele Italiener*innen die erste Anlaufstelle, um nach vermissten Angehörigen zu suchen. Roberto Zamboni möchte die Seite auch in Zukunft weiterführen, um dabei zu helfen, Schicksale aufzuklären. Wir danken ihm für sein Engagement und das Interview!

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