Die Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden ist aus Sicht von Beobachter*innen und Betroffenen vielerorts Alltag in Deutschland. Sigmount Königsberg ist Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Der 61-Jährige berät Mitglieder der Hauptstadtgemeinde zum Umgang mit antisemitischen Vorfällen. Im Interview sagt er, was sich die Betroffenen wünschen, welche Form der Solidarität er von nichtjüdischen Menschen erwartet und was der erste Schritt einer Abkehr von antisemitischen Überzeugungen sein muss.

Wie erleben Mitglieder Ihrer Gemeinde Antisemitismus?

Das sind häufig antisemitische Äußerungen, die in alltäglichen Situationen fallen, zum Beispiel in der Schule. Das ist mittlerweile leider ein Klassiker, viele jüdische Kinder fühlen sich an öffentlichen Schulen nicht mehr sicher. Das ist besonders schmerzhaft, weil dann Kinder die Betroffenen sind. Es gibt Antisemitismus aber letztlich überall. Auch in beruflichen oder in Freizeit-Kontexten, in denen plötzlich Politik eine Rolle spielt.

 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja, klar. Erst vor kurzem habe ich eine jüdische Person beraten, die auf Russisch auf übelste Weise antisemitisch und frauenfeindlich beschimpft wurde. Sie hatte sich zuvor kritisch über die russische Regierung geäußert. Darauf wurde dann mit antisemitischen Beschimpfungen reagiert. Das ist eine relativ junge Spielform des Judenhasses, die im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine steht.

 

Von Antisemitismus Betroffene wünschen sich Unterstützung

Was wünschen sich die Betroffenen, wenn Sie zu Ihnen kommen?

Sie wünschen sich Unterstützung! Die kann ganz unterschiedlich aussehen. Bei dem genannten Beispiel habe ich die Betroffene über Möglichkeiten des Strafrechts informiert, unterstütze sie bei der Anzeigenerstattung und im weiteren Verfahren. Bei antisemitischen Vorfällen an Schulen versuchen wir, Lösungen zu finden, die es den jüdischen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, ausreichenden Schutz zu bekommen und an der Schule zu bleiben. Das geht oft nur, wenn wir mit allen Beteiligten zu der Vereinbarung kommen, dass antisemitische Vorfälle künftig geahndet werden. Das kann klappen, das kann aber auch schiefgehen. Es kommt dann darauf an, dass alle Beteiligten mitziehen.

 

»Die Betroffenen werden häufig alleine gelassen. Sie müssen selbst für Veränderungen kämpfen. Und wenn das nicht klappt, müssen sie anschließend zum Beispiel eine andere Schule für ihre Kinder finden.«

Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

 

Was ist notwendig, um antisemitische Vorfälle aufzuarbeiten und für die notwendigen Veränderungen zu sorgen?

Dass man bereit ist, Antisemitismus auch als solchen zu erkennen. Häufig wird ja bestritten, dass überhaupt Antisemitismus vorliegt, etwa wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht. Da wird eine antisemitische Aussage dann auch mal mit dem Verweis auf Meinungsfreiheit verteidigt. Für viele Menschen ist es zudem leider schlicht und ergreifend bequemer, einfach wegzusehen. Die Betroffenen werden häufig alleine gelassen. Sie müssen selbst für Veränderungen kämpfen. Wenn das nicht klappt, müssen sie anschließend zum Beispiel eine andere Schule für ihre Kinder finden.

 

Juden werden für die Politik Israels verantwortlich gemacht

Inwiefern sind jüdische Menschen in Deutschland betroffen, wenn auf eine antisemitische Weise über Israel gesprochen wird?

Ich kenne kaum einen Juden, der nicht für die Politik Israels persönlich verantwortlich gemacht wird. Es ist fast eine Standardfrage bei Partys, Jüdinnen und Juden zu fragen, „Was macht deine Regierung da unten?“. Gleichzeitig werden Beurteilungen über Israel geäußert, die alte antisemitische Stereotype beinhalten. Damit werden zwei Botschaften vermittelt: Deutsche Juden seien gar keine Deutschen, sondern Israelis. Und sie müssen gerade stehen für vermeintliche oder tatsächliche Verfehlungen der israelischen Regierung. Man wird damit aus der Mehrheitsgesellschaft heraus definiert.

 

Israelfeindliche Proteste im Mai 2021 in Berlin: Hier wird das antisemitische Stereotyp von Juden als Kindermördern auf Israel übertragen. (Foto: Grischa Stanjek/democ.)

 

Wie äußert sich dieser israelbezogene Antisemitismus?

Es werden die alten antisemitischen Bilder auf den jüdischen Staat bezogen, vom Kindesmord-Vorwurf aus dem Mittelalter über den Brunnenvergifter bis hin zur Behauptung, Israel kontrolliere die Medien. Diese Vorstellungen sind über ein Jahrtausend alt. Sie wurden nur geringfügig verändert und auf Israel bezogen. Und es kommt noch etwas hinzu, was mich sehr besorgt: Die Schoah wird in manchen Kreisen mittlerweile als ein Kolonialverbrechen unter vielen gesehen und damit relativiert.

 

NS-Verbrechen und Kolonialismus unterscheiden sich

Was ist daran besorgniserregend, wenn sowohl Kolonialismus als auch Nationalsozialismus thematisiert werden?

Erstmal gar nichts. Es sollten aber die Unterschiede nicht verwischt werden. Der Kolonialismus hatte vor allem das Ziel, unterdrückte Völker auszubeuten und schreckte dabei auch nicht vor Genoziden zurück, um diese ökonomischen Ziele zu erreichen. Den Nationalsozialisten ging es aber von Anfang an um die vollständige Vernichtung des jüdischen Volkes. Dafür wurden erhebliche Ressourcen eingesetzt, sogar welche, die kriegswichtig waren, wie die Kapazitäten der Reichsbahn. Dass Jüdinnen und Juden auch zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden, dass sie systematisch ausgebeutet, beraubt und ausgeplündert wurden, war bei den Nazis fast ein Nebenprodukt. Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie stand der Vernichtungsantisemitismus.

 

Viele zivilgesellschaftliche Initiativen und Einrichtungen engagieren sich gegen Antisemitismus. So auch die Amadeu Antonio Stiftung, von der dieses Motiv stammt.
Weil judenfeindliche Überzeugungen oft in Aussagen über den Staat Israel ausgedrückt werden, zeigen Gegner*innen des Antisemitismus gerne die Fahne des jüdischen Staates – wie hier bei einer Kundgebung in Frankfurt/Main.

Engagement gegen Antisemitismus

Jede*r ist gefragt, etwa gegen Antisemitismus zu tun. Wenn Du einen antisemitischen Vorfall beobachtest, kannst Du ihn dokumentieren und die Polizei rufen. Du kannst bei rein verbalen Attacken zudem direkt Partei ergreifen und Dich mit der betroffenen Person solidarisieren. Und sich selbst zu informieren über jüdisches Leben und den Staat Israel kann eine gute Vorbereitung sein für die nächste Diskussion. 

Zurück zu Antisemitismus im Alltag: Was würden Sie nichtjüdischen Menschen raten, wie sie sich im Alltag verhalten sollten, wenn sie Antisemitismus mitbekommen?

Ich erwarte von niemandem, sich in Gefahr zu begeben. Aber Umstehende können zum Beispiel mit dem Handy dokumentieren, was passiert. Das Video kann man dann anschließend der Polizei, uns oder der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zur weiteren Bearbeitung gegeben werden. Wenn es um Pausen- oder Party-Gespräche geht, bei denen antisemitische Äußerungen fallen, ist Widerspruch nötig. Den gibt es in der Regel leider nicht, und wenn doch, kommt er häufig von Jüdinnen und Juden oder Menschen, die eng mit ihnen verbunden sind. Da ist noch viel Luft nach oben.

 

Was sollte jemand tun, der sich antisemitisch verhalten hat?

Das wichtigste ist, dass das eigene Verhalten ehrlich reflektiert wird. Eigene Positionen in Frage zu stellen ist ein großer und wichtiger Schritt. Es wird von Juden oft erwartet, dass sie dabei unterstützen. Aber das können wir eigentlich gar nicht, das muss von den Leuten selbst kommen. Wenn sie den Schritt ehrlich machen, ergeben sich weitere Schritte oft von selbst.

Antisemitische Vorfälle in Berlin

(Quelle: Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin)

1.052 Vorfälle wurden von RIAS im Jahr 2021 erfasst.
24 mal wurden dabei Menschen körperlich attackiert.
35,6 % der Vorfälle wurden von RIAS in die Kategorie "israelbezogener Antisemitismus" einsortiert.
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