Es ist ein seltsames Erbstück, das die Cousins Martijn und Robert de Jongste aus den Niederlanden Ende Oktober 2018 beim ITS in Empfang nehmen: Ein fleckiger brauner Umschlag, adressiert an die Direktion des Zuchthauses Ebrach. Absender war das „Staatliche Luitpold-Krankenhaus Würzburg“. Dem Vermerk auf der Rückseite zufolge, enthielt der Umschlag Geld für drei Gefangene. An erster Stelle steht der Name ihres Großvaters: Bastiaan de Jongste.

„Unser Großvater war sehr geschickt“, erzählt Martijn de Jongste. „Er baute die tollsten Sachen für uns Enkelkinder!“ Sein Talent nutzte Bastiaan de Jongste während der deutschen Besatzung unter anderem, um Stempel und Briefpapier der Sicherheitspolizei zu fälschen und falsche Papiere für abgeschossene amerikanische Soldaten zu beschaffen. Begonnen hatten seine Aktivitäten beim Widerstand 1940 ganz harmlos: gemeinsam mit einem Freund drehte er Straßenschilder, damit sich die Deutschen verirrten. Später verhalf er auch amerikanischen Soldaten mit seinem Dienstwagen zur Flucht.

Bastiaan de Jongstes Kontaktperson im Widerstand war eine junge Frau namens Elly. Mit ihr verabredete er telefonisch Treffpunkte zur Übergabe von Informationen oder Papieren. Doch eines Tages nahm nicht Elly, sondern ein fremder Mann den Hörer ab. Bastiaan war klar, dass etwas schief gegangen war. Er übergab seinem Bruder Jan einen Koffer mit belastenden Gegenständen. Dieser deponierte den Koffer in einem Schließfach am Bahnhof. Einen Tag später, am 12. März 1944, wurde Bastiaan de Jongste in Den Haag verhaftet.

Die nächsten Monate verbrachte er in Einzelhaft – häufig im Dunklen und ohne Essen. Vom Oranjehotel in Scheveningen wurde er in das KZ Herzogenbusch gebracht. Anfang Juli kam Bastiaan de Jongste in das Kriegswehrmachtsgefängnis in Utrecht. Ein Feldgericht verurteilte ihn dort am 15. Juli 1944 „wegen verbotenen Waffenbesitzes und wegen Feindbegünstigung“ zum Tode – gemeinsam mit 10 weiteren Männern und Frauen aus dem Widerstand. Mindestens zwei von ihnen – Joan Gelderman und Jan Berend van Delden – wurden noch im September hingerichtet.

Bis zu seiner Befreiung, am 27. April 1945 im Zuchthaus Brandenburg-Görden, lebte Bastiaan de Jongste in ständiger Todesangst. „Warum er nicht getötet wurde, können wir nicht genau sagen. Vermutlich ist der Befehl aus Berlin, der das Todesurteil bestätigen musste, verloren gegangen“, so die beiden Enkel.

Bereits 1941 hatte Hitler persönlich über das Schicksal von Widerstandskämpfern in den besetzten Ländern bestimmt: Heimlich sollten sie in deutsche Gefängnisse gebracht werden, ohne dass die Angehörigen etwas über ihr Schicksal erfuhren. Die so genannten „Nacht und Nebel-Häftlinge“ verschwanden einfach spurlos. Dies sollte der Abschreckung dienen. Bastiaan de Jongste wurde in das ehemalige Kloster Ebrach in Bayern gebracht. Für seine spätere Frau Ineke und die Familie war es, als wäre er tot.

Aus dieser Zeit muss der Umschlag stammen, den Robert und Martijn de Jongste bei ihrem Besuch in Bad Arolsen erhielten. Bastiaan de Jongste erzählte seinen Enkeln viel von der Zeit im Widerstand. Robert interviewte ihn sogar einmal für ein Schulprojekt. Dennoch war er sehr überrascht, als ihn Annelies Sijtsma per Facebook kontaktierte und ihm von dem Briefumschlag seines Großvaters erzählte. Dieser gehörte zu den etwa 3000 persönlichen Gegenständen von ehemaligen Häftlingen, für die der ITS im Rahmen des Projektes #StolenMemory Besitzer oder deren Familien sucht, um sie zurückzugeben. Annelies Sijtsma unterstützt als Freiwillige das Projekt und sucht nach Angehörigen in den Niederlanden. Wie der Umschlag zum ITS gekommen ist – die meisten sogenannten „Effekten“ stammen aus den Konzentrationslagern Neuengamme und Dachau – und warum er als persönlicher Besitz von Bastiaan de Jongste jahrzehntelang aufgehoben wurde, lässt sich nicht nachvollziehen.

Gemeinsam mit dem Umschlag erhielten die Cousins auch Kopien aller Unterlagen, die zu ihrem Großvater beim ITS aufbewahrt werden. Darunter auch das detaillierte sechsundzwanzigseitige Urteil über Bastiaan de Jongste und seine Mitgefangenen aus dem niederländischen Widerstand. Es ist das Zeugnis von zehn mutigen Männern und Frauen, die bereit waren, für ihre Überzeugung ihr Leben zu riskieren.

Es überrascht nicht, wie Martijn de Jongste das Verhältnis der Enkel zum Großvater zusammenfasst: „Opa war unser Superheld!“

 

 
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