Anna Salton Eisen begegnete dem Holocaust zum ersten Mal, als sie ein kleines Kind war und ein Aquarell in einer Schublade versteckt fand. Dieses kraftvolle und verstörende Bild war von L. Salzman signiert – ein Name, den sie nicht kannte. Anna wusste instinktiv, dass sie über etwas gestolpert war, das sie nicht finden sollte. Sie legte das Bild zurück und sprach nie darüber.
Erst später erfuhr sie, dass L. Salzman der Geburtsname ihres Vaters George Salton war, der dieses Bild 1946 im Alter von 18 Jahren in einem Displaced Persons Camp malte. So begann Annas Weg, mehr über das Schicksal ihres Vaters während des Holocaust zu erfahren und die Kinder der Männer ausfindig zu machen, die mit ihm in verschiedenen Konzentrationslagern waren.
Großeltern
Ein Foto der Großeltern
Anna fand auch dieses Porträt ihrer Großeltern, das mit dem Rest der Familiengeschichte in einer Nachttischschublade versteckt war. Annas Eltern waren beide Holocaust-Überlebende, aber sie teilten Anna nie die Namen der vielen Verwandten mit, die im Holocaust umgekommen waren. Annas Vater sprach selten über seine Jahre in den Konzentrationslagern, um Anna und ihre beiden älteren Brüder vor dem Schrecken seiner Erlebnisse dort zu bewahren. Erst als Anna selbst erwachsen war, flehte sie ihren Vater an, seine wahre Geschichte zu enthüllen.
Zitat
Ich habe selten über den Holocaust oder mein Leben vor dem Krieg gesprochen. Aber Kinder sind neugierig, und sie begannen, Fragen zu stellen und Antworten zu verlangen. Sie beanspruchten meine Vergangenheit als Teil ihrer eigenen und wollten etwas über die Großeltern und den Onkel wissen, die sie nie kennengelernt hatten.
George Salton in seinem Buch "The 23rd Psalm: A Holocaust Memoir"
George Salton – Lucjan Salzman
George Salton: Geboren als Lucjan Salzman
George Salton wurde als Lucjan Salzman in Przemyśl, Polen, geboren und lebte in Polen seinem Vater Henry, einem Anwalt, und seiner Mutter Anna. Sein älterer Bruder Manek wollte im September 1939 sein Studium beginnen, als die Deutschen in Polen einmarschierten. Lucjan sollte in die sechste Klasse kommen. Nach zwei schwierigen Jahren unter Nazi-Besatzung wurden die Juden aus Tyczyn in das Ghetto Rzeszów gebracht. Die Bedingungen waren schrecklich: Hunger und Krankheiten grassierten und die Menschen waren Brutalität, Gewalt und Mord durch die Nazis ausgesetzt.
1942 wurde eine kleine Gruppe von rund 450 jungen jüdischen Männern von den knapp 23.000 Juden im Ghetto ausgesucht, um in Rzeszów in einer Fabrik Zwangsarbeit zu leisten, die Daimler-Benz zur Herstellung kleiner Flugzeugmotoren übernommen hatte. Im Sommer 1942 wurden die übrigen Juden des Ghettos in Güterwagen getrieben und zur Ermordung in das Vernichtungslager Belzec gebracht. Lucjan arbeitete in der Fabrik, die von den Deutschen in „Reichshof“ umbenannt wurde – bis Daimler Benz sie im Juli 1944 evakuierte, als die Sowjets nach Polen vorgedrungen waren.
Die Produktion wurde demontiert und nach Frankreich verlegt. Die jüdischen Arbeitshäftlinge wurden zunächst ins KZ Płaszów transportiert und dann nach Wieliczka und Flossenbürg, bevor sie im August 1944 in der Tunnelfabrik in Urbès bei Colmar eintrafen. Als die Amerikaner über Frankreich flogen, wurde die Fabrik bombardiert und die SS brachte verbliebenen Häftlinge zurück nach Deutschland. Sie waren in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Watenstedt, Braunschweig, Ravensbrück und Wöbbelin, wo sie am 2. Mai 1945 von amerikanischen Soldaten befreit wurden.
Zitat
Einige der stärkeren Gefangenen halfen den Schwachen und Kranken oder trugen sie, damit auch sie sahen, dass dieser Tag gekommen war … Wir umarmten uns und weinten zusammen. Wir sagten uns, dass wir überlebt haben und dass man die Hoffnung nie aufgeben sollte. Dies war unser Tag der Herrlichkeit. Ich stand zusammen mit Julek Schipper, Motek Hoffstetter, Moishe Ziment, Mola Tuchman und Moses Verstanding.
George Salton in seinem Buch "The 23rd Psalm: A Holocaust Memoir"
Flucht
Flucht nach Amerika
Lucjan verbrachte die nächsten zwei Jahre im Flüchtlingslager Neustadt in Lübeck. Dann fand er einen Verwandten in den USA, der ihn unterstützte, und reiste mit der USS Marine Flasher nach Ellis Island, um sein Leben in Amerika als George fortzusetzen.
Obwohl er nur die fünfte Klasse abgeschlossen hatte, wurde George eingezogen und diente in der US-Armee. Er nutzte die militärische Laufbahn, um einen College- und Graduate-School-Abschluss zu machen und trat dann eine lange und erfolgreiche Karriere im Pentagon und in der amerikanischen Verteidigungsindustrie an. Er war 63 Jahre lang mit Ruth verheiratet, die den Holocaust auch überlebt hatte, und starb 2016 in Florida. Er hatte drei Kinder und sechs Enkel.
Das Bild zeigt den Displaced Persons-Lagerausweis von Lucjan Salzman. (Foto: Aus der Sammlung von Anna Salton Eisen)
Notizen
Ein später Fund
Nach seinem Tod entdeckte Annas Familie Dokumente, darunter ein Tagebuch, einen Kalender und Fotos von Mithäftlingen aus den Vertriebenenlagern, die ihr Vater seit der Nachkriegszeit aufbewahrt hatte. Diese brachten die Holocaust-Erfahrungen ihres Vaters näher.
Anfrage bei den Arolsen Archives
Eine Akte mit 69 Dokumenten
Anna fragte nun auch bei den Arolsen Archives Informationen über ihren Vater Lucjan Salzman an und erhielt daraufhin eine Akte mit 69 Dokumenten. Enthalten waren ein Nachkriegsausweis, auf dem alle zehn Lager und seine Häftlingsnummern aufgeführt waren, handgeschriebene Aufnahmelisten aus mehreren Lagern und andere Nachkriegslisten. Diese wurden zu wertvollen Artefakten, die die Geschichte ihres Vaters, seiner Familie, seiner Stadt, des Ghettos und der Konzentrationslager, die er durchlebt hatte, detailliert darstellten.
Reise nach Polen
Reise in die Vergangenheit
1998 reiste Anna mit ihren Eltern und den zwei älteren Brüdern nach Polen. Dort lernten sie die Geschichte der deutschen Invasion und Besatzung kennen, besuchten die früheren Konzentrationslager und Ghettos, reisten in die Heimatstadt ihres Vaters. Sie konnten sogar das Haus in Tyczyn besichtigen, in dem er aufgewachsen war.
Als sie in die USA zurückkehrten, half Anna ihrem Vater, das Buch „The 23rd Psalm: A Holocaust Memoir“ zu schreiben und zu veröffentlichen. Darin zeichnet er sein sein Überleben im Holocaust auf – von der Umsiedelung ins Ghetto Rzeszów über drei Jahre Haft in insgesamt zehn Konzentrationslagern bis zur der Befreiung durch amerikanische Truppen.
Foto: George Salton vor seinem Elternhaus in Tyczyn auf einer Polenreise 1998. Foto aus der Sammlung von Anna Salton Eisen.
Mitgefangene
Freunde aus dem DP-Camp
Anna stieß auch auf Fotos von Georges Freunden aus dem Displaced Persons Camp, die er über 75 Jahre lang aufbewahrt hatte. Sie erkannte einige der Namen auf der Rückseite der Fotos als dieselben Personen, über die er im 23. Psalm geschrieben hatte.
In seinen Erinnerungen schreibt George mehr als 100 Mal über eine kleine Gruppe seiner Freunde und bezieht sich dabei auf einige andere junge Männer, die dasselbe Schicksal teilten und ihn vom Ghetto durch die zehn Lager bis zur Befreiung und über das Kriegsende hinaus begleiteten.
Mitgefangene
Dankbarkeit
George hatte Anna während ihrer Reise nach Polen gezeigt, wo einige dieser Mitgefangenen vor dem Holocaust gelebt hatten. Er hatte im Laufe seines Lebens mit großer Bewunderung und Dankbarkeit über sie gesprochen, denn sie alle hatten sich gegenseitig am Leben gehalten.
Als Anna die Gesichter auf den Fotos betrachtete und aus den Erinnerungen wusste, dass einige von ihnen während des Holocaust bei ihrem Vater gewesen waren, wollte sie unbedingt nach dieser besonderen Gruppe von Überlebenden und ihren Familien suchen.
Moses Tuchman wurde in den Memoiren ihres Vaters erwähnt. Anna durchsuchte die Arolsen Archives und fand auf mehreren Lagerlisten seinen Namen und sein Geburtsdatum sowie ein Dokument aus Flossenbürg und ein Nachkriegsdokument: Es handelte sich um den jungen Mann aus der Heimatstadt ihres Vaters, der ihm im Holocaust Freund und Mitgefangener war. Mit den Informationen aus seiner Nachkriegsakte, die auch den Namen seines Onkels in New York enthielt, konnte Anna die lebenden Verwandten von Moses Tuchman finden und schließlich mit seinen beiden Töchtern in Kontakt treten.
Tobias Nussens Foto befand sich in der Displaced Persons Sammlung von George, aber sein Name wurde nicht in den Erinnerungen erwähnt. In den Arolsen Archives fand Anna Einträge von Nussen in mehreren der gleichen Lagerlisten und –dokumente, in denen auch ihr Vater und die anderen Häftlinge standen. Trotz unterschiedlicher Geburtsdaten in mehreren Dokumenten konnte Anna Nussens Unterschrift auf der Rückseite seines Fotos mit der auf seiner Flossenbürg-Karte abgleichen und so bestätigen, dass dieser Freund auch den Holocaust als Mitglied der Gruppe von Zwangsarbeitern an Georges Seite überlebt hatte. Diese Informationen waren wichtig, um mehrere seiner Familienmitglieder zu finden.
Ein weiteres Foto in der Displaced Persons Collection gehörte Izok Rypp. Er wird in The 23rd Psalm: A Holocaust Memoir als einer der „guten jungen Männer“ erwähnt, mit denen George in den Konzentrationslagern zusammen war. In den Arolsen Archives fand Anna seinen Namen auf mehreren Lagerlisten, meist nur ein paar Zeilen über dem Namen ihres Vaters. Die Meldekarte der Nachkriegszeit zeigte, dass er im gleichen Alter wie Annas Vater war – einer der Jüngsten in der Zwangsarbeitergruppe. Anna war untröstlich, als sie bei den Arolsen Archives auch seine Sterbeurkunde fand. Izok Rypp starb am 23. Juli 1947 in einem Krankenhaus in Hamburg, nur wenige Monate vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Anna suchte dennoch weiter, konnte aber keine lebenden Verwandten finden, und so sind die Erinnerung und die Geschichte dieses jungen jüdischen Gefangenen nur durch die Arolsen Archives und die Erinnerungen von George Salton erhalten.
Dokumente
Dokumente
Die Arolsen Archives bewahren zahlreiche Dokumente über das Schicksal der Mitgefangenen von George Salton auf.
Zitat
Das waren Freunde, die mir bei jeder Gelegenheit halfen, denen ich vertrauen konnte, dass sie auf meine Schuhe oder meine Essschüssel aufpassten, und die sogar einen Kapo oder die SS anlügen würden, um mein Leben zu retten.
George SaltonGeorge Salton in seinem Buch "The 23rd Psalm: A Holocaust Memoir"
Familientreffen
Das erste große Familientreffen
Am Morgen des 26. September 2021 trafen sich zum ersten Mal die Familienmitglieder von acht der Holocaust-Überlebenden, die durch das Rzeszów-Ghetto und zehn Konzentrationslager gegangen waren. Es war ein emotionales Treffen in einem Hotel in New Jersey, bei dem die Familien die Geschichten der Männer teilten und über ihre eigenen Erfahrungen als Kinder und Enkel der Überlebenden sprechen. Einige reisten persönlich von überall aus den USA dorthin an und drei Familien waren über Zoom aus Texas, Israel und Schweden verbunden.
Anna Salton Eisen hatte das Online-Archiv der Arolsen Archives nach Dokumenten, Konzentrationslagerlisten und Nachkriegsaufzeichnungen aus der NS-Zeit durchforstet, um die Namen und Geburtsdaten der Überlebenden zu überprüfen. Auf Ancestry.com fand sie Passagierlisten von Schiffen, die Holocaust-Überlebende in andere Länder brachten, Sozialversicherungskarten, die Namensänderungen dokumentierten, sowie Nachrufe und Stammbäume, um ihre lebenden Familienmitglieder zu identifizieren.
Über Google und Facebook machte sie sich daran, mit den Kindern dieser Überlebenden in Kontakt zu treten. Alle waren überrascht, von ihr zu hören und alle hatten eines gemeinsam: Sie wussten nichts über die Holocaust-Vergangenheit ihrer Familie, bevor sie die Namen und Geschichten ihrer Väter in The 23. Psalm gelesen hatten.
Buch
In seinem Buch „The 23rd Psalm: A Holocaust Memoir“ schrieb George Salton über seine Erlebnisse während des Holocaust.
Anna Salton Eisen
Anna Salton Eisen ist die Autorin von Pillar of Salt: A Daughter's Life in the Shadow of the Holocaust (April 2022, Mandel Vilar Press) und Protagonistin des Dokumentarfilms In My Father's Words (April 2022, Jacob Wise Productions).
Am 9. Dezember 2021 war sie zu Gast bei unserem Online Live Event: Second Generation Talk with Anna Salton Eisen.