„Schlimmer als die Tiere“
Es war einer der brutalsten Orte der NS-Zeit: Im brandenburgischen Dorf Ravensbrück ließ die SS ab 1939 das größte Frauen-Konzentrationslager errichten. Die ersten weiblichen Häftlinge wurden im Frühjahr 1939 dorthin gebracht. Bis 1945 waren mehr als 120.000 Frauen im KZ Ravensbrück inhaftiert – sie wurden zum Beispiel als Kommunistinnen, Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas, Sinti und Roma verfolgt. Viele der Frauen wurden im Lager hingerichtet, aber die genaue Zahl der Ermordeten ist bis heute unklar.
Braulia Cánovas Mulero kam Ende Januar 1944 mit einem großen Transport aus dem französischen Internierungslager Compiègne-Royallieu ins KZ Ravensbrück– mit fast 1000 anderen Frauen, eingepfercht in Viehwaggons: „Sie steckten uns zu mehr als 60 pro Waggon hinein, 70 und 80 bei manchen […]. In diesen Waggons reisten wir drei Tage lang, wir verloren das Bewusstsein, schlimmer als die Tiere.“ So erinnerte sich Braulia selbst an den Transport[1] als Beginn ihres Leidenswegs durch Gefangenschaft und Zwangsarbeit.
Im KZ Ravensbrück angekommen, wartet auf die Frauen das Prozedere, mit dem die SS ihren Häftlingen jede Würde und Individualität nehmen wollte: vor dem Wachpersonal ausziehen und duschen, Rasur der Körperhaare, Häftlingskleidung, Häftlingsnummer. Braulia erzählte später, wie sie der Anblick ihrer Freundinnen erschreckt, die vor ihr fertig sind – und welche paradoxen Ängste das in ihr auslöst:
„Weil man ihnen die Haare abgeschnitten hatte, erkannte ich sie nicht wieder; als ich sie so ohne Haare und völlig nackt sah […] erwachte in mir ein Gefühl von Mitleid, ein Gefühl von Horror und, warum soll ich es nicht sagen, ein Gefühl von Eitelkeit. Ich dachte: ‚Muss ich mich mit meinen 23 Jahren so anschauen? Das ist doch schrecklich, das ist die absolute Verneinung von uns selbst‘. Und ich zog mich so in mich selbst, in meine Verneinung zurück, dass die Angst davor, dass sie mir das Haar abschneiden würden, stärker war als vor all dem physischen und psychischen Elend, das mich erwartete.“ *
Im Jahr 1944 war das KZ Ravensbrück längst auch ein Lager für Zwangsarbeit, wo die Kriegsproduktion unter brutalen Arbeitsbedingungen angekurbelt werden sollte. Auf dem Gelände gab es Schneider-, Web- und Flechtwerkstätten; neben dem KZ-Gelände hatte die Firma Siemens & Halske 20 Werkhallen für die Produktion von Fernsprechgeräten und Radios errichtet. Dort arbeiteten bis zu 2000 Frauen. Nach monatelanger Quarantäne und gezeichnet durch Krankheit musste Braulia in einer Sandgrube harte körperliche Arbeit leisten: „Wenn ich das länger hätte machen müssen, hätte ich mich umgebracht oder gegen den Elektrozaun geworfen, wegen der Qualen, die mir das physisch bereitete, ich hatte schon keine Kräfte mehr, um das auszuhalten.“
Im Juni 1944 wird Braulia in das Außenlager Hannover-Limmer gebracht, um dort zu arbeiten. Ab dem Winter 1943/44 hatten die Nazis um die Hauptlager ein flächendeckendes Netz aus über 1000 Außen- und Nebenlagern errichtet – in der Regel direkt neben kriegswichtigen staatlichen und privaten Produktionsstätten. Hannover-Limmer war ein reines Frauenlager bei den Continental Gummi-Werken. Dort wurden die Häftlinge in der Produktion von Gasmasken eingesetzt. Die Häftlingsbaracken waren eigentlich für 500 Personen ausgelegt; mit der Ankunft von Braulias Transport waren nun über 1000 Frauen dort untergebracht.
Auch in Hannover-Limmer war Braulia den willkürlichen Schikanen der Lagerhaft ausgesetzt. Es gab zahllose, teils widersprüchliche und kaum einzuhaltende Regeln, wie dass Häftlinge sich die Schuhe nicht schmutzig machen sollten. Wenn sie verletzt wurden, drohten drakonische Strafen. Gefürchtet waren die stundenlangen Appelle, die als Kollektivstrafe galten: „Den 1. Januar verbrachten wir vor dem Block, stehend im Schnee, weil eine wegen eines falschen Wortes bestraft wurde. Ich weiß nicht, was passiert war“, erzählte Braulia.*
Trotz der harten Strafen hielten die Frauen ihren Widerstand aufrecht, wann immer es ging. In der Fabrik betrieben sie sogar „kollektive Sabotage“. Braulia und ihre Mithäftlinge legten die Produktion regelmäßig lahm: „Wir stellten alle zusammen die Füße auf ein Fließband und bewirkten, dass die Sicherungen raussprangen, das bedeutete 30 bis 40 Minuten Arbeitsstillstand […]. Das taten wir, so oft wir Gelegenheit dazu hatten.“*
Am 6. April 1945 räumte die SS das Lager und schickte die Frauen auf einen langen Todesmarsch zum 70 Kilometer entfernten Konzentrationslager Bergen-Belsen.
[*] Neus Catalá: „In Ravensbrück ging meine Jugend zu Ende“: Vierzehn spanische Frauen berichten über ihre Deportation in deutsche Konzentrationslager. Verlag Walter Frey, 1994