Angekommen in der Vergangenheit
Frédérick Carnet zog im April 2016 aus Frankreich nach Sachsen, um mit seiner deutschen Freundin Christin zusammenzuleben, die er zwei Jahre zuvor beim Pilgern auf dem Jakobsweg getroffen hatte. Seinen alten Beruf als Werbefotograf in Paris hatte er da schon an den Nagel gehängt und war in die künstlerische Fotografie eingestiegen. In Deutschland fand er die Themen und Motive für seine aktuellen Arbeiten: Heimat, Frieden, Ökologie, Toleranz - und das Schicksal seines Großonkels.
Frédérick, was bedeutet Heimat für dich?
Heimat ist ein sehr deutscher und auch altmodischer Begriff. Im Französischen existiert dieser Ausdruck so gar nicht. Hier in Deutschland haben ihn nun die wiederentdeckt, die sich selbst erheben und andere ausschließen wollen. Die AfD benutzt den Ausdruck ständig in ihren Wahlslogans. Ich habe mich gefragt: Warum benutzen ihn die anderen Deutschen nicht für sich? Warum sollen nur die Rechten von "Heimat" sprechen? Deshalb wollte ich diesen Begriff in der Bilderserie für mich definieren. Für mich ist Heimat unser Kleingarten, wo ich meinen Frieden finde. Heimat hat für mich auch mit Umweltschutz zu tun. Wir müssen einen Weg finden, die pestizidverseuchte Landwirtschaft zu überwinden und biodynamisches Essen anzubauen. Das versuche ich in meinem Garten, wo ich auf 625 Quadratmetern biologisches Gemüse anbaue - über 300 Kilogramm pro Jahr.
Frédérick in seinem Kleingarten.
Eigentlich ist der deutsche Schrebergarten ja der Inbegriff von Spießigkeit. Fühlt man sich da willkommen?
Die meisten Leute sind älter und eher konservativ, klar. Aber ich habe nette Kontakte geknüpft - auch wenn die Sprache immer ein Problem ist, denn mein Deutsch ist sehr schlecht. Meine direkten Gartennachbarn sind eine afghanische Familie. Denen fühle ich mich schon näher, das muss ich zugeben. Die Kommunikation ist offener.
Hast du in Deutschland Erfahrungen mit Fremdenhass gemacht?
Nie direkt. Aber Christin und ich haben gleich an meinem ersten Tag hier eine Gruppe Neonazis gesehen, die sich sogar mit dem Hitlergruß begrüßt haben. Als Schüler in Frankreich habe ich viel über Deutschland, den Krieg, die Nazis gehört, aber das hat mir nichts bedeutet. Auch die Geschichte meines Großonkels hat keine Rolle gespielt. Erst als ich hier ankam, habe ich mich mehr mit der Vergangenheit beschäftigt - auch, weil damals die politische Rechte Auftrieb bekam durch die Flüchtlingskrise. Dass wir nicht aus der Vergangenheit lernen, ärgert mich. Auch in Frankreich, Italien, Spanien gab es ja Faschisten, die die Nazis unterstützt haben. Faschismus war überall. Schließlich waren es Franzosen, die meinen Großonkel ins KZ brachten...
Wie bist du auf die Geschichte deines Großonkels gestoßen?
Als Schüler wusste ich nur: Da gab es jemanden in der Familie, der war im KZ und wog 44 Kilo, als er zurückkam. Als meine Eltern mich 2017 hier besucht haben, sind wir zusammen mit Christin nach Buchenwald gefahren, weil wir wussten, das Bernard dort inhaftiert war. Erst an diesem Ort habe ich begriffen, worum es geht. Die ganze Bedeutung dieser Hölle im Lager und was das mit meinem Großonkel gemacht haben muss, das habe ich erst da gesehen. Für mich war es schrecklich, dass ich so lang nicht hingesehen habe und keinen Zugang dazu hatte. Danach fing ich an zu recherchieren und bin auch nochmal nach Buchenwald gefahren, um zu fotografieren.
Was bedeuten die Dokumente über deinen Großonkel für dich?
Ich habe von den Arolsen Archives auf meine Anfrage hin ein riesiges Paket mit über 70 Seiten Dokumentenkopien mit der Post bekommen - das war schon überwältigend. Diese Dokumente beweisen, dass er in Buchenwald war. Und was er dort machen musste - einige Arbeitseinsätze sind auf Listen verzeichnet. Sie zeigen das kalte, bürokratische System, in dem er gefangen war. Durch die Transportlisten weiß ich auch, wann und mit wem er im Lager ankam. Diese schreckliche Vergangenheit, mit der ich mich heute erst auseinandersetze, versuche ich in meinen Foto-Arbeiten mit meinem Leben heute in Deutschland und mit der Zukunft zu verbinden. Deshalb ist diese Ausstellung eine sehr existenzielle Arbeit.
Und wie siehst du die Zukunft?
Die ist sehr eng mit meiner Tochter Frieda verbunden, die ich gerade als "Hausmann" großziehe. Frieda haben wir nach "Frieden" getauft, um ihr mitzugeben: Frieda, du wirst Deutsch und Französisch sein, und wegen der Geschichte dieser beiden Länder miteinander sollst du "Frieden" heißen. Wir wollen sie als toleranten und offenen Menschen großziehen. Sie soll auch von der Vergangenheit wissen, von Bernards Schicksal, und mit diesem Bewusstsein aufwachsen. Damit sich die Geschichte nicht dauernd wiederholt und dieselben Fehler immer wieder gemacht werden. Unsere Kinder müssen Frieden und ein ökologisches Gleichgewicht in dieser Welt finden - oder es zumindest versuchen.