Einleitung
Schicksale von NS-Opfern aufzudecken, gleicht oft einem Puzzle. Einzelne Spuren, die Stück für Stück ans Licht kommen, ergeben erst zusammen einen ganzen Verfolgungsweg. Das Niederländische Netzwerk der Kriegssammlungen macht mit dem neuen Online-Portal „Warlives.org“ genau das: Es setzt Spuren aus verschiedenen Quellen zu Biografien von NS-Verfolgten zusammen. Eine dieser Quellen sind die Dokumente in den Arolsen Archives.
Dazu gehören auch Hinweise zum Verfolgungsweg von Selma Simon-Katz aus Arolsen – eine der auf dem Portal vorgestellten Biografien. Nachdem der Versuch der jüdischen Familie Simon scheiterte, mit dem Passagierschiff St. Louis nach Kuba zu emigrieren, wurden die Simons von den Nationalsozialisten erst ins Konzentrationslager Westerbork, dann nach Sobibor verschleppt. Drei ihrer Töchter haben überlebt: Sie konnten vor der Deportation nach England ausreisen.
Verfolgungsweg
Der Terror beginnt
Nach der Reichspogromnacht im November 1938 verhafteten die Nationalsozialisten etwa 30 000 jüdische Männer, darunter auch Karl Simon. Die offizielle Begründung lautete „Schutzhaft“ und eine „Wiederherstellung der Ordnung“ nach den Verwüstungen, den Plünderungen, der Gewalt und den Morden. Der eigentliche Hintergrund: Die meist wohlhabenden inhaftierten Juden sollten zur Auswanderung gezwungen und ihr Eigentum dem Staat übereignet werden.
Karl Simon kam ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Wie viele andere fasste auch die Familie Simon den Entschluss, Deutschland zu verlassen, um der NS-Verfolgung zu entkommen. Selma schickte noch während der Haftzeit ihres Mannes zwei ihrer Töchter mit einem Kindertransport nach England. Nach der Entlassung Karls ging der Rest der Familie im Mai 1939 in Hamburg an Bord des Passagierschiffes St. Louis. Das Ziel: ein neues Leben auf Kuba, vielleicht von dort eine Ausreise in die USA. Doch ihre Reise nahm einen unerwarteten Verlauf. In Kuba angekommen wurde ihnen die Einreise verweigert.
Alle Passagiere der St. Louis befanden sich auf der Flucht. Eine Rückkehr in ihre deutsche Heimat war für die Menschen keine Option. Sie hatten die Radikalisierung erlebt und mussten eine erneute KZ-Haft fürchten. Nach tagelanger Irrfahrt durften sie in Antwerpen von Bord gehen und wurden von den Regierungen der Niederlande, Frankreichs, Belgiens und Englands aufgenommen. Die Simons gingen in die Niederlande und lebten in den nächsten drei Jahren in Arnhem.
In Sicherheit vor dem NS-Regime waren sie auch hier nicht. 1942 begannen Deportationen von Juden aus den Niederlanden in die deutschen Vernichtungslager. Als zentrale Sammelstelle diente das ehemalige Flüchtlingslager Westerbork, das nun unter deutscher Verwaltung stand. Juden, die zuvor aus Deutschland oder Österreich geflohen waren, wurden in dem Durchgangslager interniert. Auch Selma Simon, die laut Unterlagen des Informationsbüros des Niederländischen Roten Kreuzes „aus rassischen Gründen“ zusammen mit ihrer 14-jährigen Tochter Ilse im Dezember 1942 in dem Lager inhaftiert wurde. Wenige Monate später folgte ihr Mann Karl. Ihre älteste Tochter, Edith, konnte zuvor noch nach England ausreisen. Am 18. Mai 1943 deportierten die Nationalsozialisten die Familie Simon ins Vernichtungslager Sobibor im Osten Polens. Dort wurden sie drei Tage später direkt nach ihrer Ankunft ermordet.
Verfolgungsweg
Reise mit der St. Louis
Die Flüchtlinge durften nicht einreisen
Einige der Passagiere waren nach der Reichspogromnacht bereits in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen. Für ihre Entlassung unterschrieben viele noch in der Haft, dass sie das Land verlassen würden. In kurzer Zeit stieg die Zahl der Ausreiseanträge rasant an. Diejenigen, die mit der St. Louis ihre Heimat verließen, mussten den Großteil ihres Besitzes in Deutschland zurücklassen – und durften nur 10 Reichsmark mit auf die Reise nehmen.Alle Passagiere hatten Einreisebewilligungen bei sich, ausgestellt von der kubanischen Einwanderungsbehörde. Dennoch ließ sie die kubanische Regierung nicht an Land. Man hatte kurz zuvor die Bestimmungen für Einwanderer geändert. Nur 29 Menschen durften in Havanna von Bord des Schiffes gehen. Die Versuche des deutschen Kapitäns Gustav Schröder, die Passagiere in den USA oder in Kanada einreisen zu lassen, scheiterten. Die dortigen Regierungen lehnten die Flüchtlinge ebenfalls ab.
Im Juni 1939 kehrte die St. Louis schließlich zurück nach Europa und durfte im belgischen Antwerpen einlaufen. Für einen Teil der Passagiere war dies das Todesurteil. Als nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in den Niederlanden die Vorbereitungen zu Massendeportationen von Juden begannen, befanden sich unter den Häftlingen im niederländischen Durchgangslager Westerbork auch ehemalige Passagiere der St. Louis, darunter die Familie Simon.
Vernichtungslager Sobibor
Nur wenige haben überlebt
Als im Juni 1942 die Deportationen von Juden aus den Niederlanden begannen, war das Vernichtungslager Sobibor in Ostpolen eines der Ziele. Rund 33 000 Menschen allein aus den Niederlanden verschleppten die Nationalsozialisten hierher, darunter Familie Simon. Die meisten von ihnen wurden von der SS direkt nach ihrer Ankunft in die Gaskammern getrieben und ermordet, nur wenige für die Arbeit im Lager eingesetzt.
Im Oktober 1943 organisierte eine Widerstandsgruppe von Häftlingen, vor allem unter der Führung jüdischer sowjetischer Kriegsgefangener, einen Aufstand: Es gelang ihnen, einige SS-Männer zu töten, darunter auch den stellvertretenden Lagerkommandanten Johann Niemann, und die Telefonverbindungen zu kappen. Auf der Flucht vor den restlichen Wachmännern starben viele im Minenfeld, das die SS rund um das Lager angelegt hatte, oder wurden erschossen. Nur etwa 200 Häftlinge retteten sich in den angrenzenden Wald. Die im Lager zurückgebliebenen Häftlinge wurden ermordet.
Nach dem Aufstand wurde das Lager Sobibor von den Nationalsozialisten zerstört, Unterlagen über die Geschehnisse vor Ort wurden vernichtet. Genaue Zahlen über die Opfer lassen sich nicht mehr feststellen. Erst seit Januar 2020 sind Bilder aus einem privaten Fotoalbum von Johann Niemann für die Öffentlichkeit zugänglich, sie kamen nach der Auflösung des Lagers in den Privatbesitz seiner Familie. Zu den wichtigsten Zeugnissen über das Lager gehören Aussagen der wenigen Überlebenden. Einer von ihnen war Jules Schelvis, der 2004 die Arolsen Archives besuchte und hier sein Buch vorstellte, in dem er seine Erlebnisse in Sobibor verarbeitet hatte. Er war einer von 81 männlichen Arbeitshäftlingen in seinem Transport, die nicht direkt am Tag der Ankunft in den Gaskammern von Sobibor ermordet wurden.
Hinweise zum Verfolgungsweg von Selma Simon-Katz
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In der Zentralen Namenkartei der Arolsen Archives ist der letzte Wohnort von Selma Simon-Katz und ihre Deportation aus dem Lager Westerbork 1943 verzeichnet. Handschriftlich wurde "Sobibor" ergänzt.
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Auf dieser Karte aus den Korrespondenzakten der Arolsen Archives ist die Reise mit dem Passagierschiff St. Louis eingetragen. Heute weiß man, dass Selma Simon-Katz im Vernichtungslager Sobibor, nicht in Auschwitz ermordet wurde.
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Hinweiskarte zu Karl Simon. Seine Entlassung aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen wurde nachträglich handschriftlich eingetragen.