Brieftaschen mit Fotos, Eheringe mit Gravur, Modeschmuck, Briefe: Bei der Einlieferung ins Konzentrationslager hatten die Menschen nur das dabei, was sie bei der Verhaftung bei sich trugen oder vor ihrer Deportation eingesteckt hatten. Von mehr als 2500 ehemals Inhaftierten bewahren die Arolsen Archives diese persönlichen Gegenstände – sogenannte Effekten – noch auf.  

 „Effekten“ ist eigentlich ein altes Wort für Reisegepäck. Später wurden so die persönlichen Gegenstände bezeichnet, die Häftlinge in Gefängnissen abgeben mussten und nach ihrer Freilassung zurückerhielten. Auch in Konzentrationslagern gab es „Effektenkammern“. In vielen Lagern bewahrten die Nationalsozialisten die persönlichen Gegenstände oft nur zum Schein von Recht und Ordnung unter den Namen der Häftlinge auf – bis zu deren Ermordung. Wenn die Häftlinge in andere Lager verlegt wurden, schickte die SS die Effekten hinterher. Anders in den Vernichtungslagern: Dort sammelten die Täter den Besitz der Opfer nur noch ein und transportierten ihn ab. Die Nationalsozialisten machten diese Beute zu Geld und füllten damit zum Beispiel die Kriegskassen des NS-Regimes.

Effekten sind Alltagsgegenstände, die einen Blick auf das Leben vor der Haft er-
möglichen und zugleich dessen Verlust verdeutlichen: persönliche Dinge wie Brief-
taschen, Ausweispapiere, Fotos, Briefe, Urkunden sowie vereinzelt Modeschmuck,
Zigarettenetuis, Eheringe, Taschen- und Armbanduhren oder Füllfederhalter der
ehemaligen KZ-Häftlinge.

 

Wie kamen die Gegenstände zu den Arolsen Archives?

Die Effekten stammen hauptsächlich aus den Konzentrationslagern Neuengamme und Dachau; hinzu kommen kleinere Bestände, wie zum Beispiel von der Gestapo Hamburg. Insgesamt erhielten die Arolsen Archives im Jahr 1963 rund 4 700 Effekten mit dem Auftrag, sie an die Eigentümer zurückzugeben. In der Mehrzahl waren das Gegenstände, die kurz nach der Befreiung des KZ Neuengamme durch die britische Armee sichergestellt worden waren. Die Soldaten fanden das Eigentum der Häftlinge des KZ Neuengamme in Lunden, Schleswig-Holstein. Es war der Rest der dorthin gebrachten Gefangeneneigentumsverwaltung des KZ Neuengamme. Die britischen Behörden beschlagnahmten diesen persönlichen Besitz. 1948 übergaben sie die Gegenstände mit dem Auftrag der Rückerstattung an das Zentralamt für Vermögensverwaltung.


Bei den Effekten, die 1963 in das Archiv nach Arolsen kamen, war auch ein
zunächst unsortierter Bestand von Geldbörsen, der größtenteils einzelnen
Häftlingen zugeordnet werden konnte. Darin befinden sich oft Erinnerungen
an Freunde und Familie, zum Beispiel Fotos.

 

Die Verwaltung und Rückgabe der Effekten aus dem KZ Dachau organisierten nach der Befreiung des Lagers die ehemaligen Häftlinge selbst. Die verbliebenen Umschläge kamen im Jahr 1963 über verschiedene deutsche Ämter und Institutionen in das Archiv nach Bad Arolsen.

 

Schicksale aus ganz Europa

Der Bestand der Effekten spiegelt die Entmenschlichung unter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Europa wider und veranschaulicht das Lagersystem sowie die unterschiedlichen Biografien der Opfer. In vielen Fällen handelt es sich um das Eigentum von Zwangsarbeiter*innen, die oft aus nichtigsten Gründen – zum Beispiel wegen Kontakten zu Deutschen – beschuldigt, inhaftiert und dann vor allem in der Rüstungsindustrie eingesetzt wurden. Auch verhaftete Widerstandskämpfer*innen wurden aus ganz Europa in die Konzentrationslager deportiert. Im Rahmen von Vergeltungsmaßnahmen nahmen die Nazis auch unbeteiligte Zivilisten fest und kategorisierten sie dann als „politische Häftlinge“.

 

Gesucht: Neonellas Angehörige
Neonella Doboitschina aus Russland, geboren am 11. Oktober 1923, gehörte zur großen Zahl von Zwangsarbeiterinnen, mit denen das NS-Regime die Kriegswirtschaft am Laufen hielt. Am 5. Mai 1944 deportierte die Gestapo die junge Studentin in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Der Transport in das KZ Neuengamme folgte am 31. August 1944. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Unter ihren Effekten finden sich einige Schmuckstücke, aber auch viele Fotos mit Widmungen – Erinnerungen aus glücklichen Zeiten. Ihre Freunde nannten sie Nelly.

Selten: Effekten von Juden

Besitz von jüdischen KZ-Häftlingen ist nur in sehr kleiner Zahl bei den Arolsen Archives vorhanden. Die Gegenstände gehörten überwiegend Juden aus Ungarn, die in den letzten Kriegsmonaten zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurden. Eine absolute Ausnahme, denn die meisten Deportationen aus Ungarn gingen in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo die Häftlinge direkt ermordet wurden.

Ernö Gottlieb war einer von 880 ungarischen Juden, die im November 1944 aus Budapest in das KZ Neuengamme bei Hamburg verfrachtet wurden: Die Nazis deportierten den jüdischen Buchhalter in das KZ-Außenlager Wilhelmshaven – eine Kriegsmarinewerft, in der er Schwerstarbeit verrichten musste. Am 25. März 1945 starb er an den unmenschlichen Bedingungen. Sein Grab liegt in Wilhelmshaven. Dies ist seine Taschenuhr, die die Arolsen Archives gern an seine Angehörigen übergeben würden:

Jene Häftlinge, die durch die Todesmärsche in den Konzentrationslagern Neuengamme oder Bergen-Belsen ankamen, besaßen oft gar nichts mehr. Von Sinti und Roma sind ebenfalls kaum Effekten dabei.

Lebenslange Stigmatisierung

Eine wichtige Häftlingsgruppe im Bestand der Effekten sind jene Menschen, die die Nazis als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ disqualifizierten. Diese Stigmatisierung ist für die Angehörigen der Häftlinge oft schmerzhaft und mit Scham behaftet. Die Opfer wurden bis heute nicht rehabilitiert und haben keine Entschädigungen erhalten. Eine Aufarbeitung dieser Schicksale ist daher dringend notwendig, auch für die Angehörigen von Menschen, die als „Homosexuelle“ abgestempelt wurden.

 

Fast alle Eigentümer sind bekannt

Die Effekten bei den Arolsen Archives sind ein Archivbestand mit Seltenheitswert, denn in den Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager gibt es solche Sammlungen nicht. Auch wenn der Bestand sehr klein ist und aus nur wenigen Quellen stammt: Bei genauer Betrachtung weisen die Gegenstände Bezüge zu beinahe allen Konzentrationslagern auf. In Verbindung mit den Originaldokumenten aus den Lagern in unserem umfangreichen Archiv geben sie Einblicke in die Leidensgeschichte ihrer Besitzer. Von den persönlichen Gegenständen bei den Arolsen Archives sind die meisten Eigentümer bekannt. 

4700 Effekten haben die die Arolsen Archives 1963 erhalten
über 2500 Umschläge mit Gegenständen lagern noch im Archiv
30 Nationalitäten haben die Eigentümer

Schon ab 1963 begannen die Mitarbeiter, nach den Effektenbesitzern oder deren Angehörigen zu recherchieren. Sie arbeiteten mit Namenslisten, die von verschiedenen Ämtern erstellt worden waren, und glichen diese mit der Zentralen Namenkartei des Archivs ab, die Hinweise zu rund 17,5 Millionen Menschen enthält. Gleichzeitig wurde bei Anfragen geprüft, ob sich die Namen auf den Listen befinden.

„Ich bin noch immer fasziniert. Nach gut 80 Jahren halte ich etwas in meinen Händen, das meinem Großvater gehört hat und ihm sicherlich sehr wichtig gewesen ist.“

Christel Gottschalk holte die Taschenuhr und einige Rentenscheine ihres Großvaters Max Wernicke persönlich bei den Arolsen Archives ab.

Forschung und Digitalisierung erleichtern Rückgabe

Im Laufe der Jahre wurden Fotos aller Effekten im Online-Archiv der Arolsen Archives veröffentlicht, um ihre Sichtbarkeit zu verbessern und somit die Rückgabe zu erleichtern , aber auch um den Bestand nach Rückgaben weiter zu dokumentieren. Zudem gab es von 2009 bis 2011 ein Forschungsprojekt, in dem knapp 900 Effekten durchgesehen und neu erfasst wurden. Für viele Gegenstände, deren Eigentümer bis dahin noch unbekannt gewesen waren, wurde so eine namentliche Zuordnung möglich. Das Ziel aller Recherchen war es von Anfang an, die persönlichen Gegenstände an die ehemals Verfolgten oder ihre Familienangehörigen zurückzugeben.

Hoher ideeller Wert für die Familien

Für die Angehörigen sind die Effekten besondere Erinnerungsstücke, denn sie waren der letzte persönliche Besitz ihrer Verwandten, die in vielen Fällen erst kurz vor der Befreiung oder sogar kurz danach starben: Gründe waren die katastrophalen Bedingungen in den Lagern oder die Todesmärsche, das letzte Massenverbrechen der Nationalsozialisten mit vielen Tausend Opfern. Die Familien beschreiben den Wert der Gegenstände darüber hinaus auch in der sichtbaren Verknüpfung der eigenen Geschichte und der Weltgeschichte.

Aktive Suche

Häufig ist es schwierig herauszufinden, ob es noch Angehörige gibt und in welchen Ländern sie heute leben. Deshalb haben die Arolsen Archives 2011 zunächst eine Namenliste auf ihrer Website veröffentlicht und 2015 die Fotos der Effekten online veröffentlicht. Seit Ende 2016 sucht die Institution im Rahmen der Kampagne #StolenMemory aktiv nach Angehörigen, um die persönlichen Gegenstände in größerer Zahl als bisher zurückgeben zu können. In vielen Ländern arbeiten die Arolsen Archives auch mit freiwilligen Helfern oder mit Institutionen wie dem Roten Kreuz zusammen, um Verwandte zu finden.

Manche Familien schenken die Effekten regionalen Museen und Gedenkstätten, damit sie dort zur Darstellung von persönlichen Schicksalen gezeigt werden können. Diese Brosche der französischen Widerstandskämpferin Irène Rossel ging nach dem Wunsch ihrer Angehörigen Ende 2018 an das Résistance-Museum Joigny in Frankreich.

 

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