Alles zu den Dokumenten der „Langen Nacht des digitalen Denkmals“

Zur „Langen Nacht des digitalen Denkmals“ am 9. November indizieren Freiwillige aus der ganzen Welt Dokumente des KZ Dachau, die den sprunghaften Anstieg der Häftlingszahlen während der Novemberpogrome 1938 zeigen. Wir haben mit Albert Knoll, Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Dachau, über den Entstehungskontext der Dokumente gesprochen und warum sie so bedeutend sind.

Am 9. November 2021 jähren sich die Novemberpogrome zum 83. Mal: Etwa 30.000 männliche Juden aus Deutschland und Österreich wurden schon in den Tagen nach Beginn der staatlich organisierten Gewaltmaßnahmen in deutsche Konzentrationslager verschleppt – über 10.000 von ihnen nach Dachau. Während der „Langen Nacht des digitalen Denkmals“ erfassen Freiwillige im Rahmen von #everynamecounts die sogenannten „Veränderungsmeldungen“ des KZ digital und erinnern so an die Opfer der Novemberpogrome. Durch das Abtippen der Informationen der Häftlinge können wir diese sogenannten „Metadaten“ unserer Datenbank hinzufügen und für unsere Nutzer*innen bereitstellen.

Albert Knoll ist Archivar, seit 1997 an der KZ-Gedenkstätte Dachau tätig und kennt die Dokumente zu den ehemaligen Häftlingen wahrscheinlich wie kein Zweiter.

 

Herr Knoll, unsere Freiwilligen werden am 9. November Veränderungsmeldungen unter anderem aus der Zeit um die Novemberpogrome indizieren. Wie werden die Pogrome in den Dokumenten konkret ersichtlich?

Die Novemberpogrome waren die zweite große Welle, in der Häftlinge nach Dachau gekommen sind. Die erste waren die mehreren tausend österreichischen Juden, die im Frühjahr 1938 eingeliefert wurden, mehr als 500 pro Tag. Als ich mir die Veränderungsmeldungen und Zugangsbücher angeschaut habe, ist mir aufgefallen: Im November 1938 kamen die Häftlingsschreiber, die dafür zuständig waren, die Bücher zu führen, nicht mehr hinterher. Es folgt als Tageseintrag auf den 15. November plötzlich der 26. November, danach kommt wieder der 15. November. Das ist wirklich das erste Mal, dass die sogenannte Lagerselbstverwaltung, die den Häftlingen aufgebürdet wurde, überfordert war und solche Ausreißer passierten, in einer sonst eigentlich sehr chronologisch exakt geführten Liste.

 

Bei der „Langen Nacht des digitalen Denkmals“ werden diese Veränderungsmeldungen aus dem KZ Dachau indiziert.

 

Es geht bei der „Langen Nacht“ um sogenannte Veränderungsmeldungen – können Sie diese genauer beschreiben, auch im Unterschied zu anderen Dokumenten wie den Zugangsbüchern?

Die Zugangsbücher sind etwas umfangreicher. Sie enthalten Name, Geburtsdatum und -ort, den letzten Wohnort, die Haftkategorie, Konfession, Zahl der Kinder, Nationalität, Beruf, also ungefähr zwölf Felder. Bei den Veränderungsmeldungen haben wir wesentlich weniger Felder. Sie hatten eine interne Funktion, um festzustellen, wo sich der Häftling befand und wer ins Lager kam oder es verließ. Es gab ja Rücküberstellungen, also Häftlinge, die z.B. für die Dauer ihres Verhöres entlassen wurden und dann wieder in das Lager kamen. Manchmal wurde ihnen eine neue Nummer zugeteilt, manchmal aber auch nicht, dann behielten sie ihre alte. Dieser Rücktransport ist in den Zugangsbüchern nicht verzeichnet, in den Veränderungsmeldungen aber schon. Also kann man an den Veränderungsmeldungen wirklich wie in einem Tagebuch verfolgen: Was passiert Tag für Tag?

 

Wie unterscheiden sie sich von den „Schreibstubenkarten“? Diese haben Freiwillige im Rahmen von #everynamecounts ja schon im Herbst 2020 indiziert.

Mir ist aufgefallen, dass bei den Schreibstubenkarten alle Häftlinge fehlen, die während des Pogroms inhaftiert wurden. Außer einigen Hundert, die in Dachau gestorben sind. Ich gehe davon aus, dass ursprünglich für alle eine Schreibstubenkarte angelegt worden ist, die aber später entnommen wurden, weil man möglicherweise davon ausging, dass diese Häftlinge sowieso auswandern würden und man auf deren Karten nicht nochmal zurückgreifen müsste. Das ist der große Unterschied zu den Veränderungsmeldungen, bei denen wir jeden einzelnen Namen haben.

 

»Es gab eine Zugangsbaracke, eine Quarantänebaracke, dann kam er in eine andere Baracke, von der aus der Häftling entlassen wurde. Diese Nachvollziehbarkeit ist ganz wichtig für die Angehörigen, die auch über den Haftverlauf Informationen suchen.«

Albert Knoll, Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Dachau

 

Gibt es auch Informationen zu Häftlingen, die nur in den „Veränderungsmeldungen“ auftreten?

Ja, der Hinweis auf den Block. Der taucht jenseits der Revierschreiberbücher, die auch erst 1944 beginnen, nur in den Veränderungsmeldungen auf. Darin sieht man, in welchen Block Juden eingepfercht wurden, die zur Entlassung vorgesehen waren. Das ist nämlich meistens ein anderer Block als bei der Ankunft. Wenn man diese beiden Eintragungen vergleicht, sieht man, dass ein Häftling in der Regel nicht in einer Baracke blieb, sondern wechselte. Es gab eine Zugangsbaracke, eine Quarantänebaracke, dann kam er in eine andere Baracke, von der aus der Häftling entlassen wurde. Diese Nachvollziehbarkeit ist ganz wichtig für die Angehörigen, die auch über den Haftverlauf Informationen suchen. Wir können dann sagen: Der Häftling ist in Dachau gestorben, Todesursache unbekannt, aber es ist die Baracke 17 für ihn angegeben, oder 9 oder eine andere ungerade Zahl, dann wissen wir, dass er im Krankenrevier war. Oder wir können sagen, er ist möglicherweise Opfer medizinischer Versuche geworden und war in der Tuberkulose-Baracke. Das ist wichtig für uns und die Angehörigen, auch um zu wissen, wo sie einen Kranz oder eine Blume niederlegen können.

 

Sie haben über Entlassungen gesprochen, die auch bedeuten konnten, dass der betroffene Häftling zwar aus Dachau entlassen, aber in ein anderes Lager überstellt wurde. Es bedeutete also in der Regel keine Entlassung nach Hause, oder?

Bis Kriegsbeginn war es ja eigentlich die Regel, dass Häftlinge entlassen wurden. Das veränderte sich nach 1940. Voraussetzung für die Entlassung der jüdischen Häftlinge war bis dahin der Nachweis einer Auswanderung. Nur war es so, dass es nicht jedem gelang, tatsächlich auszuwandern. Wir haben einige Beispiele von Novemberpogrom-Häftlingen, die bis in die Niederlande kamen oder nach Frankreich – und dann wieder verhaftet worden sind, nach Auschwitz kamen und wieder nach Dachau zurück. Es gibt mehrere solche Fälle, aber sogar Fälle von Häftlingen, die dann in die USA gingen und als Befreier nach Dachau zurückkamen. Da haben wir in der KZ-Gedenkstätte auch ganz spannende Geschichten. Manche blieben nur eine Woche im Lager – ich weiß aber nicht, ob sie in so schneller Zeit Auswanderungsbestätigungen vorlegen konnten. Vielleicht hat man auch einfach gesagt: Das Lager ist jetzt überfüllt, wir entlassen einen Schwung Häftlinge. Ich glaube, dass man das nicht so genau sagen kann.

 

Welche Schwierigkeiten könnten die Freiwilligen beim Erfassen der Dokumente haben?

Das meiste ist relativ gut lesbar, aber ich denke, bei einigen krakeligen Schriften – der deutschen Kurrentschrift oder der Frakturschrift zum Beispiel – könnten die Freiwilligen Probleme haben. Einige Tagesmeldungen wurden auch von SS-Leuten unterschrieben. Das ist sehr schwer zu entziffern. Aber selbst, wenn es nicht lesbar ist, sollte da ein Hinweis hin, dass dort etwas steht. Dann kann man in einem zweiten Durchgang gezielt diese Hinweise anschauen.

 

Sie haben im Vorgespräch darauf hingewiesen, dass man auf den Karten im Feld „Art der Haft“ oft den Hinweis „2x KL“ (=mehrmals im Konzentrationslager) findet – was für die Häftlinge oft eine strengere Behandlung im Lager bedeutete.

Das war quasi eine Information für die SS, die Person noch härter zu behandeln, ja. Das kann man sogar in der Lagerordnung nachlesen, da steht drin, wie „Zweitmalige“ zu behandeln sind. Es gab kein Entlassungsverbot für sie, aber es war wichtig, sie zu kennzeichnen. Ich glaube sogar, dass die Kennzeichnung auf der Häftlingskleidung erfolgte.

 

Das "Jourhaus" heute
(Fotos: KZ-Gedenkstätte Dachau)

Das Jourhaus des KZ Dachau

Alle neuen Häftlinge des Lagers passierten das „Jourhaus“ („Jour“: französisch, „Tag“) und dessen schmiedeeisernes Tor mit der bekannten Inschrift „Arbeit macht frei“. In der Lagerschreibstube im Jourhaus wurden die Veränderungsmeldungen vermutlich aufbewahrt.

 

In den Veränderungsmeldungen sind vor allem Namen von Männern – gibt es auch Veränderungsmeldungen zu Frauen? In Dachau waren ja mehrheitlich Männer und weibliche Häftlinge eher in den Außenlagern, richtig?

Ja, Frauen sind auf jeden Fall recht unterrepräsentiert. Die ersten Frauen waren ganz wenige Zwangsprostituierte, die von Ravensbrück im Herbst 1942 eingeliefert wurden. Dann kamen Frauen vor allem ab Sommer 1944, in ganz überwiegender Zahl Jüdinnen, die direkt in die Außenlager überstellt wurden. Bei den Veränderungsmeldungen ab 1944 wurde sich aber nicht mal mehr die Mühe gemacht, Listen anzulegen. Da wurde nur summarisch aufgezählt, zum Beispiel wie viele Frauen aus Frankreich kamen oder wie viele Schutzhäftlinge dabei waren, weil es einfach zu viele Personen waren.

 

Ist Ihnen aus dem Zeitraum um die Novemberpogrome und der Einlieferungen nach Dachau die Geschichte eines Zeitzeugen besonders im Gedächtnis geblieben?

Mir fällt David Ludwig Bloch ein, Häftlingsnummer 21096, ein Jude aus der Oberpfalz. Eingeliefert am 10. November aus München. Er war gehörlos, sehbehindert und „Plakatmaler“, so heißt es in der Zugangsliste, und ging auf die Kunstgewerbeschule in München. Das erstaunliche ist, dass er als Gehörloser Dachau überlebte. 1939 ist er nach Shanghai immigriert und hat dort Szenen aus dem Ghetto gezeichnet. Er hat uns eine fantastische Ölzeichnung eines Lagerappels von 1938 geschenkt. Man sieht die Details aus dem Lager, 10.000 Häftlinge auf dem Appellplatz, die von Lampen angestrahlt werden.

 

Was passierte nach der Befreiung mit den Veränderungmeldungen?

Dazu muss man wissen: In Dachau haben wir den glücklichen Fall, dass vor allem ab 1940 sehr viele polnische Häftlinge mit guten Deutschkenntnissen nach Dachau eingeliefert worden sind. Sie waren begehrte Häftlinge für die Schreibstube und blieben auch nach der Teil-Evakuierung noch im Lager. Sie widersetzten sich dem Befehl, alle Unterlagen zu vernichten, was dazu führt, dass Dachau eine sehr hohe Quote von 97 Prozent aller Häftlingsnamen hat. Nur Material, das in unmittelbarer Nähe der SS war, wurde vernichtet. Die ehemaligen Häftlinge führten Bücher sogar weiter, Schreibstubenkarten wurden noch bis September 1945 gepflegt. Die Veränderungsmeldungen aber endeten mit dem 26. April, da gab es dann keinen Anlass mehr, weitere Eintragungen zu machen. 1947/48 wurden die Unterlagen dann dem International Tracing Service (Anm.: Vorgängerorganisation der Arolsen Archives) übergeben.

Während der Langen Nacht des digitalen Denkmals arbeiten wir gemeinsam mit Freiwilligen aus aller Welt daran, die Veränderungsmeldungen aus Dachau unserer Datenbank hinzuzufügen. Jede*r kann einen Beitrag leisten, ob zehn Minuten oder mehrere Stunden, damit sich zukünftige Generationen an die Namen der Verfolgten erinnern. Registriere dich jetzt und hilf mit!

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