Sie waren fest entschlossen, im Konzentrationslager ein Weihnachtsfest auszurichten: Geneviève Helmer und ihre Freundinnen, junge Frauen aus ganz Europa mit der Häftlingskategorie „politisch“, mussten für das Fest am Heiligabend 1944 improvisieren. Genevièves Sohn Benoît Weymuller besuchte die Arolsen Archives, um ihre persönlichen Gegenstände abzuholen und erzählte von den Erinnerungen seiner Mutter aus der Haft.

Durch kleine Diebstähle gelang es den Häftlingen, aus den bescheidenen Mitteln im Arbeitslager Hannover-Limmer Weihnachtsdekoration zu basteln. Ihr Weihnachtskuchen bestand aus Brot und dem berüchtigten „Lagerkaffee“, einem ungenießbaren Aufguss aus Ersatzkaffee. „Diesen Storch hat meine Mutter auf einem Stück Pappe gezeichnet“, sagt Benoît Weymuller und zeigt ein Foto von Genevièves Weihnachtsdekoration aus dem Lager. Er hat eine ganze Mappe dabei mit Dokumenten, Bildern seiner Mutter, ihren Zeugenberichten und Briefen.

Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter reiste er zu den Arolsen Archives, um ihre persönlichen Gegenstände abzuholen, die über Jahrzehnte im Archiv aufbewahrt worden waren: eine Uhr, ein Armband und eine Puderdose. Mitarbeiter der Arolsen Archives hatten Benoît Weymuller im Rahmen der Kampagne #StolenMemory ausfindig gemacht. Bedauerlicherweise war Geneviève einige Monate zuvor im Alter von 97 Jahren gestorben.

»Es ist wirklich schade, dass meine Mutter diese Rückgabe so knapp verpasst hat. Das Armband zurückzubekommen hätte sie besonders gerührt. Sie hing sehr daran, denn es war ein Geschenk ihres Patenonkels.«

Benoît Weymuller

Widerstandsbewegung

Eine nähere Betrachtung der Puderdose von Geneviève bei dem Besuch der Familie lüftete ein Rätsel: Darauf steht „Made in Austria“. Das war offenbar der Grund, dass ihre Besitzerin nach dem Krieg als Österreicherin registriert worden war. Diese falsche Zuschreibung erschwerte die Suche nach Spuren von Geneviève Helmer. Vielleicht war die Puderdose ein Geschenk einer Freundin, der Österreicherin Elisabeth Charlotte Zeißl. Die beiden waren Studentinnen an der französischen Universität Straßburg, die damals in Clermont-Ferrand Zuflucht gefunden hatte. Sie gehörten einer Widerstandsbewegung gegen die Nationalsozialisten an. Bei einer Razzia in der Universität nahm die Gestapo sie am 25. November 1943 mit über 1000 weiteren Student*innen und Professor*innen fest. 300 wurden deportiert.

Auf der Puderdose von Geneviève fand sich eine Inschrift: „Made in Austria“. Die Familie vermutet, dass ihre Angehörige aus diesem Grund nach dem Krieg als Österreicherin registriert worden ist. Benoît Weymuller reiste zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter zu den Arolsen Archives, um die persönlichen Gegenstände seiner Mutter abzuholen.

Deportation ins größte Frauen-Konzentrationslager

Nach wochenlangen Verhören, Militärgefängnis und Internierungslager wurden die beiden Frauen Ende Januar 1944 ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Sie kamen mit einem der  großen Transporte aus Frankreich: Die SS pferchte mehr als 1000 Frauen aus dem Internierungs- und Transitlager Compiègne in Nordfrankreich in Viehwaggons. Ihr Leidensweg dauerte drei Tage – ohne Wasser und ohne Essen. Die Arolsen Archives haben auch Dokumente und Informationen über andere Frauen aus diesem Transport, zum Beispiel über die spanische Widerstandskämpferin Braulia Cánovas Mulero.

In Benoît Weymullers Unterlagen findet sich sogar ein Brief, den seine Mutter aus dem Zug geworfen hatte und der von einem Bahnarbeiter an die Eltern weitergeleitet worden war. Trotz der bestialischen Zustände auf dem Transport versuchte sie darin ihre Familie und ihre betagten Eltern zu beruhigen: „Ausgezeichnete Gesundheit, gute Moral. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen um mich zu machen. Wir sind eine kleine Gruppe von sehr freundlichen Menschen.“

Der kleine Storch gehört zu den Dingen, die Geneviève Helmer für die improvisierte Weihnachtsfeier anfertigte. Ihr Sohn bewahrt alles im Andenken an seine Mutter auf – nun auch die zurückgegebenen „Effekten“.

Weihnachtsfeier trotz Zwangsarbeit im KZ

Nach fünf Monaten im KZ Ravensbrück wurde Geneviève mit fast 200 weiteren Frauen ins KZ-Außenlager Hannover-Limmer verlegt. Dort verrichteten Ende 1944 mehr als 1000 Frauen Zwangsarbeit für den Reifenhersteller Continental. Sie sollten in großer Stückzahl Gasmasken herstellen, mit jeweils zwölfstündiger Akkordarbeit in Tag- oder Nachtschichten. Die Frauen in Block 12, Genevièves Unterkunft, versuchten ein wenig „Freude und Besinnlichkeit“ in ihr Leben zu bringen und organisierten heimlich am Heiligabend ihre Weihnachtsfeier. Sie schenkten sich auch fiktive Geschenke. Die Frauen wollten sich diese Geschenke wirklich überreichen – falls sie überlebten. Von einer Spanierin namens Pilar Lubian sollte Geneviève Helmer einen Kamm und einen Schleier bekommen.

Neue Suche nach Verwandten

Die meisten der Frauen, darunter auch Geneviève, wurden Anfang April 1945 von der SS auf einen Todesmarsch ins KZ Bergen-Belsen geschickt. Sie überlebte und wurde am 15. April befreit. Auch Pilar überlebte ihre Gefangenschaft – Geneviève hatte versucht, sie nach dem Krieg zu treffen. Ihr Sohn denkt, dass es ihr nicht gelang, sie wiederzusehen. Aber er fand in ihren Dokumenten eine Adresse von Pilar in Spanien. Mit diesem Anhaltspunkt konnten sich die Arolsen Archives nun auf die Suche nach Verwandten machen, denn von Pilar bewahrt das Archiv noch einen Ring auf, den sie bei ihrer Verhaftung abgeben musste.

Jetzt Spenden
Mehr erfahren