Früher KZ-Außenlager, heute Nazitreff: Die Kamenzer Straße in Leipzig
Mit mehr als 5.000 Häftlingen war das KZ-Außenlager „HASAG Leipzig“ das größte Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Das zentrale Gebäude des Lagers ist seit 2007 in Privatbesitz – und fiel seitdem wiederholt durch Rechtsrockkonzerte oder rechte Kampfsporttreffs auf. In einer offenen Erklärung fordert die Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig nun die Stadt zum Handeln auf.
Die im KZ-Außenlager HASAG Leipzig inhaftierten Frauen und Männer (im Herbst 1944 wurde zusätzlich ein Männerlager eingerichtet) mussten Zwangsarbeit leisten und für den größten sächsischen Rüstungskonzern HASAG (Hugo Schneider AG) Waffen und Munition herstellen. Das zentrale Gebäude des Frauenaußenlagers lag in der Kamenzer Straße 12 im Nordosten Leipzigs: In den hohen Hallen wurden Schlafsäle eingerichtet, im Erdgeschoss befand sich die Krankenstation, die Schreibstube und die Kantine des Lagers. Im Keller waren der Waschbereich und Kammern, die als Haftzellen genutzt wurden.
Verfassungsschutz: Immobilie wird „rechtsextrem genutzt“
Es ist das einzige heute noch erhaltene authentische Gebäude eines KZ-Außenlagers im Stadtraum Leipzig – und seit knapp 15 Jahren in Privatbesitz eines Mannes, der zur Neonazi-Szene gehören soll. Die Kamenzer Straße 12 fiel in den vergangenen Jahren vor allem durch Schlagzeilen auf wie: „Ein ehemaliges KZ in Nazihand: In der Kamenzer Straße hat sich ein neuer Boxclub angesiedelt“ (zum Artikel) oder „Leipziger Polizei verhindert rechtsextremes Musikfestival“ (zum Artikel). chronik.LE, ein Projekt, das neofaschistische Ereignisse „in und um Leipzig“ dokumentiert, berichtet immer wieder, dass Gedenktafeln zerstört wurden. Im April 2021 soll bei einer Razzia in den Räumen des Boxclubs „Sin City Boygym“ eine Hakenkreuzfahne gefunden worden sein. Der sächsische Verfassungsschutz führt den Ort als „rechtsextrem genutzte Immobilie“.
Josephine Ulbricht arbeitet bereits seit 2008 im Team der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig. Seitdem hat sie den Besitzer des Gebäudes noch nie gesehen, öffentlich zur Debatte geäußert hat er sich auch nicht. Ob er beim Kauf über die Geschichte des Gebäudes Bescheid wusste, „darüber wissen wir nichts“, sagt sie.
Leipziger Stadtrat: Infotafel kommt bis 2025
2020 bekannte sich der Leipziger Stadtrat zur historischen Bedeutung des Geländes und beschloss, dass spätestens bis 2025 eine Infotafel angebracht werden sollte. Für viele der noch lebenden Zeitzeug*innen könnte das zu spät sein. Eine von ihnen: Estare Kurz (heute: Estare Weiser), die am Tag der Evakuierung, dem 13. April 1945, im KZ-Außenlager geboren wurde. 1951 konnte sie mit ihrer Mutter Anna und Vater Abraham, der die Befreiung in Theresienstadt erlebte, in die USA ausreisen.
Im Sommer 2019 stieß Anne Friebel, ebenfalls Mitarbeiterin der Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig, bei Recherchen in den Arolsen Archives auf die Geschichte von Estare Weiser. Nachdem erste Kontaktversuche ins Leere liefen, meldete sich die Zeitzeugin im Frühjahr 2020 zufällig von sich aus bei der Gedenkstätte. Die 76-Jährige lebt mittlerweile in New York City.
„Wir wussten, dass ein Referat der Stadt Leipzig überlegt hat, Estare Weiser einzuladen. Wir haben dann deutlich gemacht, dass es wichtig wäre, die Gedenkstele vorher einzuweihen.“ Inzwischen gibt es dazu Gespräche mit der Gedenkstätte und dem Kulturamt der Stadt Leipzig. „Wir sind zuversichtlich, dass die Gedenk- und Informationstafel in diesem Sommer eingeweiht wird, leider ist unklar, ob Estare Weiser bald nach Leipzig kommen wird“, so Ulbricht.
»Ich finde, dass die Stadt sich mehr mit ihrer NS-Vergangenheit auseinandersetzen könnte. In München soll ein Gedenkort in Neuaubing entstehen, auch in Berlin gehört es irgendwie dazu. Ich weiß nicht, warum es hier nicht so ist.«
Josephine Ulbricht, Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig
Als dann Ende 2020 die Denkmalwürdigkeit des Gebäudes abgelehnt wurde, weil seit 1945 zu viel an der Substanz verändert worden sei, stand für Josephine Ulbricht und ihr Team fest: „Wir müssen etwas machen.“ Im Herbst 2021 beschlossen sie, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung eine Erklärung zu überreichen, mit dem Appell, die Zustände dort zu ändern. „Ich finde überhaupt, dass die Stadt sich mehr mit ihrer NS-Vergangenheit auseinandersetzen könnte. Es ist nicht mehr wie vor zehn Jahren, als das ein schlechtes Image bedeuten konnte, sondern mittlerweile total anerkannt. In München soll ein Gedenkort in Neuaubing entstehen, auch in Berlin gehört es irgendwie dazu. Ich weiß nicht, warum es hier nicht so ist.“
Öffentliche Erklärung zum Holocaust-Gedenktag 2022
Am 27. Januar 2022, dem 77. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau, veröffentlichte die Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig ihre Erklärung, unterzeichnet unter anderem von Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives, aber auch von Mitarbeitenden verschiedener Gedenkstätten, Professoren und Politiker*innen. Mittlerweile kann jede*r die Erklärung auch online unterzeichnen und damit ein Zeichen setzen.
Konkret wird gefordert, das Gebäude und Gelände in der Kamenzer Straße 12 müsse
- in das Eigentum der öffentlichen Hand übergehen.
- erhalten bleiben und (boden-)denkmalpflegerisch untersucht werden.
- zugänglich für die Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig sowie andere Akteur*innen im erinnerungspolitischen Feld sein, um es künftig mit Überlebenden und ihren Angehörigen besuchen und für die Bildungs- und Erinnerungsarbeit nutzen zu können.
- als zentraler historischer Erinnerungsort mit Bezug zum KZ-Außenlagersystem und NS-Zwangsarbeit von der Stadt Leipzig gewürdigt werden.
„Die Tage nach der Veröffentlichung unserer Erklärung waren schon aufregend“, erzählt Josephine Ulbricht Anfang Februar. „Wir haben uns gefreut über die Resonanz, sowohl von der Öffentlichkeit, als auch von der Presse. Jetzt geht natürlich die nächste Phase los: Was machen wir mit den Unterschriften? Wie wollen wir weiter vorgehen?“
Die erste Reaktion der Stadt auf die Forderungen war allerdings eher enttäuschend: Da sich das Grundstück in Privatbesitz befinde und nicht als Denkmal anerkannt ist, seien „seriöse Verkaufsverhandlung bisher leider nicht zustande gekommen“.
Wenn Josephine Ulbricht sich für das nächste Jahr etwas wünschen könnte, dann: „Dass die Informationstafel an der Kamenzer Straße eingeweiht ist. Wenn die Stadt das Gebäude kaufen würde, wäre das natürlich sehr gut. Aber auch wenn jemand anderes es kauft – da es Privateigentum ist, kann das ja passieren – würden wir uns wünschen, dass die Stadt vermittelt und sich dafür einsetzt, dass es ein Ort der Erinnerung wird.“
Mit unserer Initiative #ErinnernVorOrt möchten wir lokaler Erinnerungsarbeit eine Stimme für ihre wertvolle und wichtige Arbeit leihen. Denn die systematische Verfolgung von Millionen von Menschen fand nicht an wenigen und zentralen Orten statt. Geschichten wie die der Kamenzer Straße in Leipzig zeigen: Die Stätten von Verfolgung, Terror und Ausbeutung befinden sich oft immer noch in direkter Nachbarschaft – ohne dass die breite Öffentlichkeit davon weiß.