Nachrichten aus Kriegsregionen wie der Ukraine erreichen uns täglich. Zivilist*innen sind militärischen Angriffen oft schutzlos ausgeliefert. Wie Menschen in ihrer Heimat von Krieg betroffen sind und wie Zahlen über zivile Todesopfer richtig eingeordnet werden können, haben wir die Konfliktforscherin Therese Pettersson gefragt.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben die Vereinten Nationen 6.114 getötete und 9.132 verletzte Zivilistinnen und Zivilisten (Stand: 2. Oktober 2022) gemeldet. Zahlen zu Todesopfern aus Kriegsgebieten verschaffen einen Eindruck über das Ausmaß und die Brutalität des Krieges und spielen eine entscheidende Rolle bei der Ermittlung von Kriegsverbrechen. Sie werfen aber auch häufig Fragen auf: Woher kommen diese Daten? Welche Rolle spielt die Höhe der Todeszahl im Konflikt? Über dieses Thema haben wir mit Therese Pettersson gesprochen. Sie ist Projektleiterin des Uppsala Conflict Data Program (UCDP) der Universität von Uppsala, das Daten zu militärischen Konflikten seit 1946 sammelt und auswertet.

 

»Die reine Zahl der Todesfälle ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn es darum geht, wie Zivilistinnen und Zivilisten von bewaffneten Konflikten betroffen sind.«

Therese Pettersson, Konfliktforscherin

 

Nicht nur Staaten führen Krieg

Welche Arten von Konflikten gibt es?

Das UCDP erhebt Daten über drei verschiedene Arten von bewaffneter und organisierter Gewalt, die mit den Beteiligten zusammenhängen. Die erste Art beinhaltet Staaten, die gegen andere Staaten kämpfen oder, was häufiger passiert, wenn ein Staat gegen eine Gruppe von Rebellinnen und Rebellen kämpft. Diese wollen meist die Regierung stürzen oder Unabhängigkeit oder Autonomie erlangen. Die zweite Form ist, wenn nichtstaatliche Gruppen gegeneinander kämpfen, zum Beispiel bei Kämpfen zwischen rebellischen Gruppen oder bei Konflikten zwischen ethnischen Gruppen. Der dritte Typ schließlich ist die einseitige Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten. Zu dieser Kategorie gehören Angriffe, die absichtlich gegen zivile Personen gerichtet sind.

Der Krieg in der Ukraine fällt sowohl in die erste Kategorie, staatliche Gewalt, als auch die dritte, einseitige Gewalt. Die Kategorisierung erfolgt auf der Ereignisebene, was bedeutet, dass von Russland getötete Zivilistinnen und Zivilisten als einseitige Gewalt registriert werden, während Menschen, die in Kämpfen zwischen ukrainischen und russischen Streitkräften sterben, als staatliche Gewalt gezählt werden.

 

Mindestens 1.000 Tote

Um als Konflikt gewertet und so genannt werden zu können, müssen die Kämpfe unabhängig von der Kategorie mindestens 25 direkte Todesopfer in einem Kalenderjahr fordern. Wenn ein bewaffneter Konflikt die Schwelle von 1.000 kampfbedingten Todesopfern in einem Kalenderjahr überschreitet, wird er als Krieg betrachtet.

 

Aktive Konflikte, in denen mindestens ein Staat involviert ist (Grafik: UCDP)

 

Sterben mehr Zivilistinnen und Zivilisten in heutigen Konflikten als früher?

Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass in heutigen Konflikten mehr zivile Menschen sterben. Auch wenn es zwischen den verschiedenen Konflikten erhebliche Unterschiede gibt, liegt der Anteil der zivilen Todesopfer seit Jahrhunderten konstant bei etwa 40-60%.

Der Konflikt mit dem höchsten Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Todesopfern ist, einschließlich des Völkermords, der ruandische Bürgerkrieg (1990-1994), bei dem mehr als 99 % der Todesopfer Zivilistinnen und Zivilisten waren. Das Konfliktjahr mit dem geringsten Anteil an getöteten zivilen Menschen ist der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador im Jahr 1995, bei dem überhaupt keine zivilen Opfer festgehalten wurden. In Konflikten, in denen viele Kämpfe und Beschuss in städtischen Gebieten stattfinden, ist die Zahl tendenziell hoch.

 

Zwei Mädchen spazieren durch ihre vom Krieg zerstörte Nachbarschaft in Nowoseliwka, Ukraine (Foto: Ales Uscinaw/Pexels).

 

Zahl der Toten wird als Propaganda genutzt

Wie werden die zivilen Todesopfer in umkämpften Gebieten gezählt?

Informationen über zivile Todesopfer in Konflikten sind wie alle Informationen über das Geschehen in Kriegsgebieten Gegenstand von Manipulationen und werden häufig für Propagandazwecke verwendet.

Die UCDP-Daten beruhen auf öffentlich zugänglichen Quellen wie Nachrichtenartikeln aus internationalen und lokalen Medien, Berichten internationaler und lokaler NGOs und anderen Informationsquellen. Jeder Bericht wird von unserem Team einzeln gelesen, und jedes Ereignis, das Informationen über organisierte Gewalt enthält, wird in unsere Datenbank eingegeben. Diese Arbeit wird von Mitarbeitenden erledigt, die über umfassende Kenntnisse zu den Konflikten verfügen und die Informationen einordnen können.

 

»Informationen über zivile Todesopfer in Konflikten sind wie alle Informationen über das Geschehen in Kriegsgebieten Gegenstand von Manipulationen und werden häufig für Propagandazwecke verwendet.«

Therese Pettersson, Konfliktforscherin

 

Welche Folgen hat ein bewaffneter Konflikt für die Menschen in der Region?

Triggerwarnung: Am Ende dieses Absatzes befindet sich ein Bild einer toten Person.

Bei jedem kampfbedingten Todesfall gibt es Angehörige und Freund*innen, die ohne diese Person weiterleben müssen. Die Hinterbliebenen müssen nicht nur mit der ständigen Angst des Krieges leben, sondern auch mit der Trauer. Wenn das Todesopfer beispielsweise die Ernährerin oder der Ernährer der Familie war, kann dies außerdem enorme finanzielle Folgen für die Menschen im näheren Umfeld haben. Auf gesellschaftlicher Ebene kann ein bewaffneter Konflikt zu einem Anstieg der Gewalt im Allgemeinen führen, unter anderem zu mehr häuslicher Gewalt.

Und natürlich sind auch die Auswirkungen der zerstörten Infrastruktur, des eingeschränkten Zugangs zur Gesundheitsversorgung, nicht zu unterschätzen. Menschen auf der Flucht und ausbreitende Armut betreffen umkämpfte Regionen ebenfalls. Die reine Zahl der Todesfälle ist nur die Spitze des Eisbergs, wenn es darum geht, wie Zivilistinnen und Zivilisten von bewaffneten Konflikten betroffen sind. 

 

Getöteter Mann in Charkiw, 2022
Ukrainischer Zivilist in seiner Wohnung, getötet durch die russische Bombardierung von Charkiw (Foto: Ministry of Internal Affairs of Ukraine)
Getöteter Mann in Charkiw, 2022
Zerstörtes Gebäude in der Nähe von Kyjiw (Foto: Ales Uscinaw/Pexels)

Folgen des Krieges

Zivilistinnen und Zivilisten sind nicht nur während der Kämpfe von Konflikten betroffen. Auch Jahre später sind die Regionen von finanziellen Problemen gezeichnet, einer schwachen Infrastruktur und Gesundheits- sowie Bildungsversorgung. Schlafende Landminen können auch lange nach dem Ende des Krieges Menschen durch Explosionen verletzen und töten.

 

Worauf sollte man achten, wenn man sich Daten aus Kriegsgebieten ansieht?

Es ist immer wichtig, darauf zu achten, woher die Informationen stammen, also die ursprüngliche Quelle. Handelt es sich um eine der Kriegsparteien, die Verluste bei ihren Gegnern beklagt, oder um eine unabhängige Organisation, die ein Massengrab aushebt? Wem können wir vertrauen? Bei dem Lesen von Berichten aus Kriegsgebieten ist zu bedenken, inwiefern die ursprüngliche Quelle daran interessiert sein könnte, die Informationen zu verdrehen oder zu manipulieren.

 

Therese Pettersson ist Forschungskoordinatorin im Fachbereich Friedens- und Konfliktforschung an der Universität von Uppsala in Schweden. Sie leitet dort das Projekt „Uppsala Conflict Data Program (UCDP)“, das Daten zu militärischen Konflikten auf der ganzen Welt sammelt. Ihre Spezialgebiete sind nichtstaatliche Konflikte, einseitige Gewalt und externe Hilfen.

 

Hilfe für ukrainische NS-Überlebende

Durch den russischen Krieg gegen die Ukraine sind viele Menschen in große Not geraten. Unter den Leidtragenden sind zahlreiche Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung und Nachfahren ehemaliger KZ-Häftlinge. Als Teil des „Hilfsnetzwerks für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine“ möchten die Arolsen Archives diesen Menschen konkret helfen.

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