Würdevolle Migration: Was die EU aus der Nachkriegszeit lernen kann
Im Interview mit Historiker Dr. Christian Höschler sprechen wir über „Würdevolle Migration“. Er gibt Einblicke in die Situation von circa 10–12 Millionen Displaced Persons in Europa und wie die Alliierten nach 1945 für sie nach einer Heimat suchten.
Welche Parallelen siehst du zwischen der Situation der Displaced Persons zu Migrant*innen und Geflüchteten heute?
Ich sehe die Parallelen oft auf der individuellen Ebene. Für die Menschen, die sich außerhalb ihrer Heimat befinden oder von ihren Familien getrennt sind oder wenn sie ein Lagerdasein fristen, ist diese individuelle Erfahrung mehr oder weniger unabhängig von den politischen Rahmenbedingungen oder von den Kontexten, die zum Beispiel zur Flucht geführt haben.
Es ist dieses Dasein als Flüchtling oder das Displacement als Erfahrung, das bis zu einem gewissen Grad universell ist. Natürlich sind es individuelle Schicksale, aber wenn man jetzt das Dasein in einem DP-Camp nach 1945 vergleicht mit der Situation in einer Asylunterkunft heute und alle damit verbundenen Fragen nach Freiheit und Autonomie im Alltag, sieht man da ganz klar die Parallelen.
Die Mehrheit der DPs war nicht freiwillig in Deutschland
Wie würdest du die Unterschiede zwischen Menschen in DP-Camps damals und Menschen in Geflüchtetenlagern heute beschreiben?
Also, was natürlich immer unterschiedlich ist, sind die Gründe für Migration. Handelt es sich um freiwillige Migration oder sind es Menschen, die gegen ihren Willen ihre Heimat verlassen mussten, beziehungsweise von dort weggebracht wurden. Die Mehrheit der Displaced Persons war damals ja nicht freiwillig nach Deutschland gekommen, sondern wurde zum Beispiel im Rahmen von Zwangsarbeit verschleppt und ins Deutsche Reich gebracht und wollte nach 1945 dort gar nicht sein. Das war damals ein unfreiwilliges Displacement, was wir heute so in Deutschland in vielen Fällen nicht haben. Die meisten DPs wollten damals nicht in Deutschland bleiben, wohingegen heute für viele Migrant*innen Deutschland ein attraktives Zielland ist.
»Ein Unterschied zu heute war nach Kriegsende der Wille, als internationale Staatengemeinschaft gemeinsam einer Herausforderung zu begegnen. Das war damals vielleicht ausgeprägter, weil es diese furchtbaren Erfahrungen des Kriegs gab und man gesehen hat, wohin nationaler Egoismus führen kann. Wenn man einen ähnlichen Willen wie damals jetzt zeigen würde, wären einige der großen Herausforderungen vielleicht weniger groß.«
Dr. Christian Höschler, Historiker
Von welcher Anzahl von Menschen sprechen wir damals im Vergleich zu heute?
In Europa gab es circa 10-12 Millionen Displaced Persons und auch noch in etwa die gleiche Anzahl Vertriebener. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied, wenn man damals mit heute vergleicht. Man hatte es damals allein bei diesen beiden Gruppen mit ungefähr 20–25 Millionen Menschen zu tun, die eigentlich nicht in Deutschland gewesen wären. Und das auch noch in einem Land, das komplett vom Krieg zerstört war, wo die Infrastruktur brachlag, wo es Versorgungsengpässe gab und der politische und wirtschaftliche Wiederaufbau geleistet werden musste.
Bis Februar 2022 sprachen wir von einem weitgehend intakten Europa und hatten es mit einer verhältnismäßig kleinen Zahl an Menschen zu tun, die im Rahmen von Flucht oder anderweitiger Migration zu uns kamen. In der Europäischen Union waren das selbst im Jahr 2015, während der sogenannten „Flüchtlingskrise“, insgesamt „nur“ knapp zwei Millionen. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben sich die Dimensionen jedoch drastisch verändert. Derzeit sind laut UNHCR mehr als 7,8 Millionen Ukrainer*innen als Flüchtlinge in Europa registriert. Davon suchen über eine Million Schutz in Deutschland.
Welche Strategien verfolgten die Alliierten damals, um Perspektiven für die Displaced Persons zu finden und gab es so etwas wie würdevolle Migration?
Die Grundstrategie war die Repatriierung der Displaced Persons, also die Rückführung in ihr Heimatland, was zum Großteil auch wirklich klappte. Die Alliierten haben es geschafft, Millionen von Menschen bis Ende 1945 zu repatriieren. Allerdings ging der Plan nicht komplett auf, weil nicht alle DPs nach Hause wollten, beispielsweise DPs aus der Sowjetunion, weil sie beispielsweise, und in vielen Fällen auch berechtigterweise, Angst hatten vor Repressalien. Zum Stichpunkt würdevolle Migration: Das war unmittelbar nach Kriegsende nicht unbedingt gegeben, da es auch Zwangsrepatriierungen gab und das führte auch dazu, dass sich viele sowjetische DPs in den Lagern das Leben genommen haben. Die Alliierten haben dann diese Praxis der Zwangsrepatriierung eingestellt und im weiteren Verlauf der Nachkriegsjahre ist ein Prinzip im Umgang mit Flucht und Migration entstanden, dass das Individuum mit persönlichen Wünschen und Vorstellungen ernster nahm.
1947 löste eine neue Organisation, die IRO (International Refugee Organization) die bisherige von den Alliierten beauftragte Organisation, die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), ab und hatte neben der Repatriierung von DPs auch ganz explizit die Aufgabe des Resettlements. So wurde es ab Mitte 1947 möglich, einen Großteil der in Deutschland verbliebenden DPs nach und nach in Resettlement-Programmen zu vermitteln. Diese Auswanderungen, zum Beispiel in Länder wie die USA, Kanada, Australien oder auch Südamerika zogen sich bis Ende 1951 hin und zu diesem Zeitpunkt stellte auch die IRO ihre Arbeit ein. Das wird auch als das Ende der „DP-Ära“ gesehen, obwohl sich immer noch rund 150.000 DPs in Deutschland aufhielten. Das waren oft Alte, Gebrechliche oder unqualifizierte Arbeitskräfte, die für die Aufnahmeländer keinen Mehrwert darstellten und für die dadurch eine würdevolle Migration nicht möglich war.
Würdevolle Migration im Sinne bedingungsloser humanitärer Unterstützung fand oft nur vordergründig statt, weil im Hintergrund ganz harte ökonomische Beweggründe eine Rolle spielen und es nicht immer nur darum ging, Menschen in Not zu helfen, sondern vor allem darum, welchen Vorteil sie den Aufnahmeländern bringen konnten.
Asylsuchende werden zur Untätigkeit gezwungen
Was können wir aus der Nachkriegszeit und aus dem Umgang mit DPs lernen?
Die Alliierten versuchten, für die DPs eine Perspektive zu entwickeln. Es wurde versucht, eine Lösung zu finden, nachdem die Repatriierung für viele keine Option mehr war. Die Erlernung von Berufen und Sprachen in den DP-Lagern, damit sie bessere Chancen hatten, zum Beispiel in die USA auszuwandern – das ist natürlich schon ein Unterschied, verglichen mit Asylbewerber*innen, die man in der Regel in einer Unterkunft mehr oder weniger zur Untätigkeit zwingt und die dann bis zum Entscheid ihres Asylstatus dort eine Existenz fristen. Natürlich waren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht alle Akteure Idealisten, und es gab natürlich auch damals nationale Interessen beim Umgang mit den DPs, aber ein Unterschied war der Wille, als internationale Staatengemeinschaft gemeinsam einer Herausforderung zu begegnen. Das war damals vielleicht ausgeprägter, weil es diese furchtbaren Erfahrungen des Kriegs gab und man gesehen hat, wohin nationaler Egoismus führen kann.
Und gerade an diesem Punkt ist der Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart spannend: Mit den Ereignissen in der Ukraine ist der Krieg wieder mitten in Europa angelangt – etwas, was viele in diesem Ausmaß nicht mehr für möglich hielten. Und die Reaktion darauf ist bezeichnend: Es gab und gibt eine große Welle der Hilfsbereitschaft in vielen – wenn auch nicht allen – europäischen Ländern. Die Menschen spenden, engagieren sich in lokalen Hilfsinitiativen, und vielen Geflüchteten wird auch von staatlicher Seite mehr oder weniger schnell und unbürokratisch geholfen. Gerade im Vergleich zu den Ereignissen im Jahr 2015 läuft da inzwischen schon einiges besser.
Möglicherweise ist die Reaktion auf Flucht und Migration eine andere, je näher die Ursachen „vor der eigenen Haustür“ liegen. Diese Erkenntnis wäre, gerade auch in vergleichender Perspektive auf die DP-Geschichte, eine interessante. Sie sollte uns aber auch zu denken geben, denn unsere grundsätzliche Hilfsbereitschaft im Kontext von Flucht und Migration sollte vielleicht nicht primär von räumlichen Faktoren, sondern im Kern stets von universalen Werten geprägt sein.
Und in diesem Sinne müssen wir uns fragen: Wo bringt uns ein Blick in die Vergangenheit weiter? Und wo nicht? Ich bin überzeugt: Sie kann uns in vielen Bereichen Orientierung bieten.