Wohin wollten die Holocaust-Überlebenden, ehemaligen KZ-Häftlinge oder NS-Zwangsarbeiter emigrieren? Welche Wünsche hatten sie für ihre Zukunft? Informationen zu knapp einer Million Namen von Displaced Persons geben die Fragebögen der International Refugee Organization.

Die Dokumente wurden zwischen 1947 und 1952 von der International Refugee Organization (IRO) und ihren Vorgängerorganisationen zusammengetragen. Es geht um die Versorgung von Displaced Persons (DPs) in westlichen Besatzungszonen in Deutschland, Italien, Österreich, der Schweiz und England. Als zentraler Dokumententyp findet sich der Fragebogen „Application for Assistance“. Er musste von den DPs ausgefüllt werden, um Unterstützung durch die IRO zu beantragen. Das Formular wird auch als „CM/1“ bezeichnet, wobei „CM“ für „Care and Maintenance“ (Fürsorge und Unterhalt) steht, die „1“ für den jeweiligen Formulartyp. Antragsteller waren meist Holocaust-Überlebende, ehemalige KZ-Häftlinge oder NS-Zwangsarbeiter. Hinzu kamen Menschen, die aus politischen Gründen aus dem Machtbereich der Sowjetunion geflohen waren.

Zusätzlich zu diesen Dokumenten enthält die Sammlung Fragebögen für DPs, Bestätigungen der Unterstützungsberechtigung, Anträge zur Änderung des Status (CM/3-Formulare), Fotos der Antragsteller, Schriftverkehr, Gesprächsnotizen sowie Krankenunterlagen.

 

Giora Zwilling

»Die Fragebögen aus dem Care and Maintenance Programm der IRO sind wichtige Dokumente, die einerseits Schicksalswege dokumentieren und andererseits zeigen, wie die ehemals NS-Verfolgten von den Alliierten betreut wurden. Sie gehören zu den persönlichsten Dokumenten, die in den Arolsen Archives zu finden sind

Giora Zwilling, stellvertretender Archivleiter

 

Überlebende der Schoa: Bela und Kasiel Segall

Bela und Kasiel Segall heirateten im Februar 1950 in München. Ihre Akte aus dem Care and Maintenance Programm der IRO zeigt, wie sie als polnische Juden und Überlebende des Holocaust die ersten Jahre nach 1945 in Krankenhäusern, Displaced Persons Camps (DP-Camps) und dann in einer eigenen Wohnung versuchten Fuß zu fassen und in Deutschland auf eine Emigrationsmöglichkeit warteten. Sie gibt zudem Auskunft über den Verfolgungsweg: Bela Segall war unter anderem in den Konzentrationslagern Majdanek, Auschwitz und Ravensbrück. Auch ihr späterer Mann wurde von den Nazis in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Die Alliierten befreiten ihn im KZ-Buchenwald.

 

DP-Karte von Kasiel Segal

 

Von Nazis und Kommunisten verfolgt: Erzsebet Klein

Erzsebet Klein, eine ungarische Jüdin, erlebte eine doppelte Verfolgungsgeschichte: Kurz nach ihrer Hochzeit 1944 verhafteten die Nazis Erzsebets Mann Imre Klein. Er wurde in das KZ Mauthausen gebracht, wo er im Mai 1945 starb. Ihr war es gelungen, in Budapest unterzutauchen.

Nach Kriegsende arbeitete Erzsebet Klein dort als Verkäuferin. Wegen abfälliger Bemerkungen über die Kommunisten drohte ihr die Verhaftung. Von Freunden gewarnt, wollte sie nach Österreich fliehen, wurde jedoch in der Slowakei aufgegriffen und in ein Lager für Regimekritiker gebracht. Ihr gelang die Flucht. Im Oktober 1949 erreichte sie Wien und beantragte die Unterstützung der IRO. Das ist nur eines von vielen sehr unterschiedlichen Schicksalen, die durch die IRO-Fragebögen dokumentiert wurden.

 

Foto von Erzsebet Klein im Antrag an die IRO
Diesen "Antrag auf Unterstützung" stellte Klein 1949 bei der IRO.

Hilfe nach der Flucht

Mit dem Formular „Application for Assistance“ konnten Displaced Persons bei der IRO Unterstützung beantragen. Das tat auch Erzsebet Klein als sie im Oktober 1949 Wien erreichte. Zuvor hatte sich die ungarische Jüdin vor den Nazis versteckt. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus drohte ihr wegen einer Bemerkung über die Kommunisten erneut Haft.

 

Flucht nach den Pogromen 1938: Bianka Cohn

Bianka Cohn floh 1939 nach Shanghai, um der nationalsozialistischen Verfolgung zu entgehen. Nach den November-Pogromen 1938 war die Stadt im Jangtse-Delta für Juden aus Deutschland und Österreich zu einem der letzten Zufluchtsorte geworden. Rund 20.000 Juden lebten dort, oft unter schwierigsten Verhältnissen. Ab 1943 existierte ein von japanischen Besatzern errichtetes Ghetto.

 

Foto von Bianka Cohn, gefunden in den Unterlagen, die von den Arolsen Archives aufbewahrt werden

Nur für die wenigsten wurde Shanghai nach Kriegsende zur neuen Heimat. Auch Bianka Cohn wollte die Stadt verlassen, das zeigt ein Fragebogen aus dem Jahr 1947. Doch erst 1949 gelang ihr die Emigration nach England. Ihre Geschichte ist eine von tausenden, die in den IRO-Dokumenten zu finden sind.

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Der letzte Besitz

Brieftaschen mit Fotos, Eheringe mit Gravur, Modeschmuck, Briefe: Bei der Einlieferung ins Konzentrationslager hatten die Menschen nur das dabei, was sie bei der Verhaftung bei sich trugen oder vor ihrer Deportation eingesteckt hatten. Von mehr als 2.500 ehemals Inhaftierten bewahren die Arolsen Archives diese persönlichen Gegenstände noch auf.

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