Einleitung

Eine der größten Schiffskatastrophen der Geschichte ereignet sich in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges in der Lübecker Bucht. Mehr als 6 000 KZ-Häftlinge kommen dabei am 3. Mai 1945 ums Leben. Sie sind Opfer eines folgenschweren Irrtums: Britische Bomber versenken das deutsche Passagierschiff "Cap Arcona" und den Frachter "Thielbek", weil sie an Bord deutsche Truppenverbände vermuten. Die SS hatte aber Tausende Häftlinge aus dem KZ Neuengamme auf die Schiffe getrieben und dort festgehalten. Eine große Dokumentensammlung bei den Arolsen Archives hilft noch heute dabei, den Opfern ihre Namen zurückgeben und Familienschicksale aufzuklären.

Räumung der Konzentrationslager

Marsch in den Tod

Um die Häftlinge im KZ Neuengamme nicht den heranrückenden Alliierten als Zeugen für die Nazi-Verbrechen zu überlassen, treibt die SS sie auf die Schiffe in der Lübecker Bucht.

Marsch in den Tod

Kein KZ-Häftling darf den Alliierten in die Hände fallen – das ordnet SS-Chef Heinrich Himmler im April 1945 an. Da stehen die Briten schon kurz vor Hamburg. Um ihre Verbrechen zu vertuschen, räumen die Nazis das KZ Neuengamme – genau wie Hunderte andere Konzentrationslager im ganzen Reich. Der Hamburger Gauleiter - zugleich Reichskommissar für Seeschifffahrt - und Hamburgs SS-Führer beschließen gemeinsam, die Neuengammer KZ-Häftlinge auf zwei in der Lübecker Bucht ankernde Schiffe zu bringen – die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“.

Schwimmende Gefängnisse

Mit dem Beginn der KZ-Räumung informiert die SS die Kapitäne der beiden Schiffe, dass diese für eine „Sonderoperation“ benötigt werden. Sie weigern sich entschieden, ihre Schiffe als schwimmendes Gefängnis zur Verfügung zu stellen, beugen sich aber schließlich dem Druck. In Güterzügen und zu Fuß kommen Ende April Tausende Häftlinge in Lübeck an und werden auf die weit draußen in der Bucht liegenden Schiffe gebracht. Die „Cap Arcona“, ursprünglich ein für 850 Passagiere gebauter Luxusdampfer, hat plötzlich rund 4.300 Häftlinge an Bord. Dazu kommen zirka 400 Wachmänner und knapp 100 Mann Schiffsbesatzung. Für die Häftlinge gibt es weder Trinkwasser noch Lebensmittel.

Kaum eine Überlebenschance

Am 3. Mai 1945 greifen britische Jagdbomber die beiden Schiffe an. Die „Cap Arcona“ erhält mehrere Bombentreffer und gerät in Brand. Rettungsboote für die Häftlinge gibt es nicht; die SS hat alle Fluchtmöglichkeiten deinstalliert. Viele der ausgezehrten und von der KZ-Haft geschwächten Menschen springen in die kalte See, um ans Ufer zu schwimmen. Wachmänner schießen von den Schiffen und auch von Land aus auf die Fliehenden. Die „Cap Arcona“ kentert ebenso wie die mehrfach getroffene „Thielbeck“. Von den über 7 000 Häftlingen an Bord der beiden Schiffe überleben nur rund 600.
Viele Historiker gehen heute davon aus, dass die Nazis das Unglück provoziert und einkalkuliert haben, dass die Schiffe von der britischen Luftwaffe möglicherweise für Truppentransporter gehalten werden.

Tote identifizieren, Grabstätten zuordnen

In den Sammlungen der Arolsen Archives befinden sich umfangreiche Dokumentationen über die Häftlinge des KZ Neuengamme und die Schiffskatastrophe in der Lübecker Bucht. Viele der Toten waren an das Ufer der Lübecker Bucht angeschwemmt worden. Sie wurden auf zahlreichen Friedhöfen in der Umgebung bestattet – oft namenlos und ohne jegliche Information über ihre Herkunft. An den ehemaligen Ankerplätzen der Schiffe liegen immer noch Skelettteile von rund 3 000 nicht bestatteten Opfern.

Zu den Aufgaben der Arolsen Archives zählt bis heute die Identifizierung der Toten, die Zuordnung von Grabstätten und die Rekonstruktion der Verfolgungswege aller Opfer. Deshalb finden sich im Archiv auch umfassende historische Unterlagen zu den Grabstätten und zu Bergungsaktionen bis in die 1950er hinein. Außerdem verwahren die Arolsen Archives eine größere Zahl von „Effekten“ der Häftlinge – persönliche Gegenstände, die ihnen bei der Verhaftung abgenommen worden waren. Bis heute suchen wir nach den Familien der Opfer, um ihnen die Erinnerungsstücke zurückzugeben.

Gedenkstein im Ehrenfriedhof Cap Arcona in Neustadt (Holstein) zur Erinnerung an die 7 000 Toten. © Roland H. Bueb

Interview

Aufzuklären, was damals wirklich geschah, Gewissheit über das Schicksal der Vermissten zu bekommen, ist für die Familien der Opfer noch heute emotional ungeheuer wichtig.

Ramona Bräu, Historikerin bei den Arolsen Archives

Dokumente zur Katastrophe in der Lübecker Bucht

Ein Gespräch mit Ramona Bräu, Historikerin bei den Arolsen Archives, über die Dokumente zum Untergang der Cap Arcona.

Welche Dokumente zur Cap Arcona finden sich im Archiv?

Zunächst einmal muss man verstehen, dass eine Vielzahl von Schriftstücken nach dem Krieg entstand, um den Untergang der Cap Arcona und Thielbek aufzuklären. Die Behörden mussten sich mit dem Ungeheuerlichen auseinandersetzen. Leichen mussten geborgen, identifiziert und bestattet werden, noch Jahre später wurden Knochen an Land gespült. Häftlingsnummern auf der Kleidung waren oftmals die einzige Möglichkeit die Identität festzustellen. Natürlich hatten die Verantwortlichen damals noch keinen Zugriff auf so umfangreiche Dokumente aus den Konzentrationslagern, wie sie heute in den Arolsen Archives zu finden sind. Viele Tote blieben Unbekannte.

Im Online-Archiv findet man heute direkt den Bericht der Wasserschutzpolizei Lübeck und Berichte zur Leichenbergung, das Kontobuch der Thielbek oder die Fotos und einen Lageplan von der Cap-Arcona-Ehrenfriedhofsanlage in Neustadt Holstein und vieles mehr. Dazu kamen Dokumente aus dem Konzentrationslager Neuengamme, die aus dem Wrack der Thielbek geborgen wurden. Hinweise, die dabei helfen konnten, Häftlingsnummern zu Namen werden zu lassen.

Das Ende des Konzentrationslagers Neuengamme und das Schicksal der Cap Arcona sind untrennbar miteinander verbunden…

Die Geschichte der Cap Arcona ist beispielhaft für die Endphaseverbrechen der Nazis, die kurz vor Kriegsende versuchten, die Spuren ihrer Verbrechen in den Konzentrationslagern zu verwischen. Häftlinge aus anderen Konzentrationslagern wurden nach Neuengamme verlegt, Todesmärsche endeten dort. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Lager geräumt. Einige tausend Häftlinge verfrachtete die SS auf die Schiffe in der Lübecker Bucht. Oftmals ahnten die Familien nichts vom Schicksal ihrer Angehörigen und folgten falschen Fährten. Erst die Anfrage in Arolsen führte sie zu den richtigen Dokumenten. Dass Bruder, Vater oder Großvater zu den Opfern in der Lübecker Bucht gehörten, ist dann eine überraschende wie schmerzhafte Information. In manchen Fällen ist es uns auch möglich nach über 70 Jahren den Familien endlich die Grabstelle ihrer Nächsten mitzuteilen.

Bei der hastigen Räumung von Neuengamme wurden auch die so genannten Effekten von einem SS-Mann mitgenommen und in seinem Heimatort versteckt. Dort wurden sie später von den britischen Alliierten gefunden. Effekten sind persönliche Besitztümer der KZ-Häftlinge, die ihnen bei ihrer Ankunft abgenommen wurden. Diese Fotos, Füller, Schmuckstücke etc. wurden säuberlich beschriftet und bei Verlegungen in andere Lager mitgeschickt. In den 1960er Jahren kamen Effekten aus den Konzentrationslagern Neuengamme, Bergen-Belsen und Dachau in den Bestand des International Tracing Service, den heutigen Arolsen Archives. Etwa 2800 persönliche Gegenstände warten heute darauf, den Familien zurückgegeben zu werden.

Welche Bedeutung haben die Dokumente zur Cap Arcona heute, nach 75 Jahren?

Aufzuklären, was damals wirklich geschah, Gewissheit über das Schicksal der Vermissten zu bekommen, ist für die Familien der Opfer noch heute emotional ungeheuer wichtig.

Der Forschung ist es vor allem ein Anliegen, ein Gesamtbild der Geschichte zu erhalten. Die Online-Stellung ermöglicht die Vernetzung mit Berichten von Überlebenden und Dokumenten, die bei Gedenkstätten, Vereinen und in anderen Archiven aufbewahrt werden. Dokumente, Effekten, Lebensdaten können so zusammengeführt und gefunden werden. Voraussetzung dafür ist eine noch bessere Indizierung der Dokumente, sprich, Namen müssen erfasst werden, um sie auffindbar zu machen. Deshalb ist uns das Crowdsourcing-Projekt „Jeder Name zählt“ ein so wichtiges Anliegen.

Willi Neurath

Schicksalhaftes Wiedersehen

Er konnte sich von der Cap Arcona retten. Seine Frau war zur selben Zeit als Marinehelferin in der Lübecker Bucht stationiert und fand ihren entkräfteten Mann zufällig am Strand.

Der Buchbinder Willi Neurath wird das erste Mal im November 1935 im Alter von 24 Jahren von der Gestapo in Köln verhaftet und wegen „Hochverrats“ verurteilt. Er hatte sich schon seit seiner Jugend in der kommunistischen Partei engagiert, wurde aus der KPD aber ausgeschlossen und trat später einer Abspaltung der Partei bei. Seine Haftzeit verbringt Willi Neurath in den Strafanstalten Siegburg und Vechta sowie im Konzentrationslager Esterwegen. Laut den Dokumenten bei den Arolsen Archives wird er dort am 24.Dezember 1940 entlassen.

Eine starke Ehe
Im Zuchthaus Vechta hatte er sich mit einem anderen Häftling aus Köln angefreundet, der ihn bat, nach der Entlassung seine Ehefrau zu besuchen und ihr eine Nachricht zu überbringen. Das macht Willi Neurath und lernt bei dieser Gelegenheit auch die Stieftochter seines Freundes, Eva Pakullis, kennen. Sie verlieben sich und heiraten im Jahr darauf. „Es war eine starke Ehe“, erzählt heute Bruno Neurath-Wilson, der Sohn der beiden. „Meine Mutter hat bedingungslos zu ihrem Mann gehalten und mit ihm im Widerstand gearbeitet.“

Willi Neurath wird am 23. April 1943 zum zweiten Mal verhaftet. Wieder beginnt für ihn eine Odyssee durch verschiedene Anstalten: Nach einigen Monaten Untersuchungshaft in Köln kommt er ins KZ Buchenwald und von dort ins KZ Sachsenhausen. „Meine Mutter hat es geschafft, ihn in Buchenwald ohne Voranmeldung zu besuchen“, erzählt Bruno Neurath-Wilson. „Sie sprach einfach einen jungen litauischen Wachposten in seiner – und ihrer – Muttersprache an und sagte ihm, dass sie ins Lager wolle, um ihren Ehemann zu besuchen. Er hat sie durchgelassen. Kurz darauf stand sie in der Kommandantur und hat nach ihrem Ehemann verlangt. Tatsächlich konnte sie ihn für eine halbe Stunde sehen.“

Einer von wenigen Überlebenden
Am 16. Oktober 1944 kommt Willi Neurath ins KZ Neuengamme. Von dort bringen die Nazis ihn mit den anderen Häftlingen auf die Cap Arcona, wo er den Angriff der britischen Luftwaffe miterlebt. Er kann nicht schwimmen und bleibt deshalb auf dem gekenterten, brennenden Schiff. Am Abend nach dem Luftangriff holen die Engländer ihn und die wenigen anderen Überlebenden von Bord und bringen ihn in Neustadt an Land.

Was Willi Neurath nicht weiß: Auch seine Frau Eva befindet sich in Neustadt, denn sie arbeitet als Marinestabshelferin und war mit ihrem Kommando dorthin verlegt worden, um der Roten Armee zu entgehen. Sie selbst hat ebenfalls keine Ahnung, dass ihr Mann auf der Cap Arcona ausharrt. Sie hatte zuletzt aus Buchenwald Post von ihm erhalten. In Neustadt kursierten alle möglichen Gerüchte, wer sich auf dem Schiff befindet. Am Morgen nach dem Angriff auf die Schiffe geht Eva Neurath Richtung Strand. „Später erzählte sie immer und immer wieder davon, dass sie sich im Nachhinein oft gefragt hat, was sie dorthin gezogen hatte“, erzählt ihr Sohn. Am Ortseingang begegnet ihr ein verdreckter, verletzter Mann, der direkt auf sie zukommt und sie anspricht. Sie braucht eine Weile, bis sie ihren Ehemann erkennt…

Gezeichnet von der Verfolgung
Die Neuraths bleiben noch ein paar Jahre in Neustadt, wo auch ihre beiden Kinder auf die Welt kommen. Willi Neurath arbeitet als Angestellter der Stadtverwaltung. Er engagiert sich in der SPD und kümmert sich zusammen mit einigen Kameraden um die Bergung der Leichen der Cap-Arcona-Opfer und die Anlage des Gedenkfriedhofes. Zwei Jahre lang leitet er das Referat „Politische Wiedergutmachung“ im schleswig-holsteinischen Innenministerium und setzte sich mit dem Schicksal vieler NS-Opfer auseinander. Diese Arbeit, aber auch die Folgen der langen, harten Haftjahre waren eine psychische und körperliche Belastung, von der sich Willi Neurath nie wieder richtig erholte. „Er hat sich nach unserem Umzug nach Köln nicht weiter politisch engagiert. Seine Kraftreserven waren erschöpft – sowohl körperlich als auch ‚ideologisch‘“, glaubt sein Sohn.

Am 13. April 1961 starb Willi Neurath in Köln. Bruno Neurath-Wilson hat selbst viele gute Erinnerungen an ihn und erfuhr durch seine Mutter viel über die Zeit der Verfolgung. Der Vater sprach nie mit seinen Kindern darüber. „In unserem Wohnzimmer hing eine vierteilige Serie mit Radierungen“, erzählt Bruno Neurath-Wilson. „Motive von Grausamkeit, Leid und solidarischer Hilfe im KZ. Diese Bilder waren uns Kindern ständig vor Augen – vielleicht haben sie uns auch ohne Worte etwas über ihn gesagt.“

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