Vor drei Jahren haben die Arolsen Archives „#StolenMemory“ ins Leben gerufen: Seitdem suchen wir aktiv die Familien ehemaliger KZ-Häftlinge, deren persönliche Gegenstände in unserem Archiv lagern. Anfangs bezweifelten viele Mitarbeiter*innen, dass sie noch Verwandte aufzuspüren könnten. Heute haben mehr als 350 Familien Erinnerungsstücke wie Schmuck oder Fotos zurückerhalten – in drei Fällen sogar die KZ-Überlebenden selbst. Ein Rückblick auf eine Suchaktion, die auch den Blickwinkel der Mitarbeiter*innen verändert hat.

„Mit StolenMemory haben wir unser Mandat erweitert“, erklärt Anna Meier-Osinski, Leiterin der Abteilung Tracing. „Über Jahrzehnte hinweg haben die Arolsen Archives nur Anfragen beantwortet: NS-Verfolgte oder ihre Verwandten wandten sich auf der Suche nach Informationen an uns. Mit dieser Kampagne aber sind wir selbst aktiv geworden.“ Das hat bei den Mitarbeiter*innen viele Fragen aufgeworfen. Wie reagiert jemand, der nach 70 Jahren die Armbanduhr seines verstorbenen Vaters bekommen soll? Wie sprechen wir Menschen an, die vielleicht noch nie etwas vom Schicksal ihrer Verwandten gehört haben? Wollen die Familien überhaupt noch etwas wissen von diesen Gegenständen?

Allen Bedenken zum Trotz hat sich gezeigt: Die meisten Familien freuen sich über Nachricht von den Arolsen Archives. Nur in zwei Fällen wollten die Menschen die Gegenstände nicht entgegennehmen. Häufig kommen sogar ganze Familien nach Bad Arolsen, um die Sachen ihrer verstorbenen Verwandten abzuholen – so wie im Dezember 2018 die große Familie der Widerstandskämpferin Braulia Canovas Mulero, die aus Frankreich und Spanien anreiste. Sie erfuhr erst durch eine StolenMemory-Aktion im spanischen Radio, dass der Schmuck von Braulia in Bad Arolsen aufbewahrt war.

Intensive Suche auf der ganzen Welt

#StolenMemory ist einerseits eine Kampagne, bei der sich die erfahrenen Mitarbeiter*innen aus der Tracing-Abteilung der Arolsen Archives auf die Suche nach den Eigentümern der Gegenstände beziehungsweise ihren Familien machen, um sie zurückzugeben. Gleichzeitig unterstützt sie dabei eine Plakat-Ausstellung, die bisher in Frankreich, Polen, Luxemburg, Griechenland und Deutschland gezeigt wurde. Für 2020 sind zahlreiche weitere Orte geplant, zum Beispiel in Russland.

Bei den Ausstellungen werden die Objekte von ehemaligen KZ-Häftlingen aus dem Land oder der Region als Suchplakat gezeigt. Oft helfen auch Journalisten und Aufrufe in den lokalen Medien, die Suchfälle bekannter zu machen. In vielen Ländern unterstützen Historiker oder andere Freiwillige die Arolsen Archives. Ohne ihr Engagement und ihre Landeskenntnisse wäre es häufig gar nicht möglich, vor Ort intensiv zu recherchieren und die Familien persönlich aufzusuchen.

Detektivarbeit in Belgien

Georges Sougné (hier in der Dauerausstellung der Arolsen Archives mit einer der Kisten, in denen die Objekte nach Bad Arolsen kamen) hilft bei der Suche nach Familien in Belgien und Frankreich. Er besucht dafür häufig die Verwandten der Opfer und ist von diesen Begegnungen immer sehr beeindruckt. Bei seinen Familienrecherchen bekommt Georges wichtige Informationen und wertvolle Tipps, wo er weiterforschen könnte. Oft bleibt er mehrere Stunden und führt tiefe, bewegende Gespräche mit den Menschen.

Das Schicksal der Opfer greifbar machen

Die Arolsen Archives haben die Gegenstände mit dem Auftrag erhalten, sie an die Eigentümer zurückzugeben. Allerdings haben die Objekte nicht nur einen persönlichen, emotionalen Wert für die Familien und die Opfer selbst. Sie können auch zur Dokumentation der NS-Verfolgung beitragen. Manche der Familien übergeben die Gegenstände deshalb auch an die KZ-Gedenkstätten, damit sie dort für Bildung und Aufklärung genutzt werden können. Die Arolsen Archives setzen #StolenMemory ebenfalls als Bildungsprojekt um, zum Beispiel aktuell mit Schülern in Polen, die über Schicksale aus ihrer Region recherchieren.

Die persönlichen Objekte der KZ-Häftlinge legen unmittelbar Zeugnis ab über das Ausmaß und die Systematik der Nazi-Verbrechen. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil unserer großen Ausstellung zur deutschen Geschichte.

Fritz Backhaus, Kurator des Deutschen Historischen Museums in Berlin

Wichtige Ausstellungsstücke

Fritz Backhaus bemüht sich gerade darum, die „Sammlung Haney“ für das Museum zu erwerben. Der 2017 verstorbene Wolfgang Haney hatte eine der größten Privatsammlungen über die Geschichte des Antisemitismus und die nationalsozialistische Verfolgung der Juden angelegt. Sie umfasst zirka 10 000 bis 15 000 Dokumente und Objekte von antisemitischen Postkarten bis hin zu Fotografien aus den Konzentrationslagern. „Dazu gehören auch persönliche Gegenstände von Häftlingen – so etwas haben wir bisher kaum in unserer Sammlung“, erklärt Backhaus. Obwohl diese Ausstellungsstücke für das Museum sehr wichtig wären, möchte er herausfinden, ob es noch Verwandte gibt, die über die Objekte informiert werden müssen. Deshalb werden sie unmittelbar an die Arolsen Archives übergeben, wo die Mitarbeiter*innen die Suche nach den Familien übernehmen und die Objekte gegebenenfalls zurückgeben.

Suche geht weiter

Auch in den nächsten Jahren gibt es noch viel zu tun für das Investigation-Team in Bad Arolsen und für die zahlreichen freiwilligen Helfer. Rund 2 700 Umschläge mit Gegenständen lagern noch im Archiv. Wahrscheinlich wird in manchen Fällen die #StolenMemory-Spurensuche erfolglos bleiben – aber dann können die Gegenstände immer noch ihre wichtige Aufgabe als Gedächtnis und Zeugnis der NS-Verfolgung antreten.

Ganz selten finden die Gegenstände sogar noch zu ihren überlebenden Eigentümern zurück: Im Oktober 2019 bekam die 95-jährige Lida Labojka ihren Schmuck zurück. An ihrem 20. Geburtstag war sie von der Gestapo in das KZ Ravensbrück eingeliefert worden.

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