Aus ihrer Idee ist eine interaktive Veranstaltung entstanden, bei der Freiwillige weltweit ein digitales Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus bauen werden: Wir haben mit Anna Dingler (26), Studierende und Teil des Arbeitskreises „Campusgeschichte“ der Leuphana Universität Lüneburg, über ihre Projektwoche und die lange Nacht des digitalen Denkmals gesprochen.

„AUFBRUCH der Campusgeschichte in eine Erinnerungskultur“: Unter diesem Titel veranstaltet die Universität Lüneburg vom 8. bis 13. November eine Gedenkwoche. Es geht um das Gedenken an die Verfolgten des Nationalsozialismus zum Jahrestag der Novemberpogrome und um den Umgang der Universität mit der Geschichte des Campus (einer ehemalige Kaserne). Die Scharnhorst-Kaserne wurde 1936 errichtet und beherbergte unter anderem das Infanterie-Regiment 47 und Teile der Infanterie-Division 110 der Wehrmacht, die an verschiedensten Kriegsverbrechen beteiligt waren, zum Beispiel in Südosteuropa und Nordafrika.

In ihrer Planung der Projektwoche ist Anna Dingler vom AK Campusgeschichte unter anderem auf die Arolsen Archives zugekommen und hat ihre Idee vorgestellt, gemeinsam mit anderen Studierenden eine Nacht lang an #everynamecounts teilzunehmen und gemeinsam NS-Dokumente digital zu erfassen. Inspiriert von dieser Idee entsteht jetzt die „Lange Nacht des digitalen Denkmals“: Am 9. November 2021 wollen wir zum Jahrestag der Novemberpogrome gemeinsam mit Studierenden, Universitäten und Fachhochschulen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern und ein Zeichen für Respekt, Vielfalt und Demokratie setzen.

 

Liebe Anna, kannst du erzählen, wie ihr zu der Idee kamt, die Projektwoche rund um den Jahrestag der Novemberpogrome zu veranstalten? 

Durch mein Studium der Kulturwissenschaften habe ich mich intensiv mit Erinnerungskultur befasst, mit Gedenken, Täter*innenschaft und Opferschaft. Mir ist aufgefallen, dass das gerade an unserer Uni zu wenig präsent ist, deshalb wollten Kommiliton*innen und ich die Projektwoche machen. Bei einer Summer School habe ich dann zum ersten Mal mit dem Recherchetool der Arolsen Archives gearbeitet, die Leiterin hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass jede*r mitmachen kann. In Verbindung mit einem anderen Event, das wir veranstalten, der „Langen Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten“, bei der wir gemeinsam mit Studis Hausarbeiten fertigschreiben, kam dann die Idee, eine ähnliche Veranstaltung zu planen. Wenn auch thematisch natürlich auf ganz andere Weise. 

 

Anna Dingler (AStA Uni Lüneburg)

»Hier auf dem Campus haben wir die Chance, Erinnerungskultur zu schaffen.«

Anna Dingler, Studierende

 

Eure Universität hat eine ziemlich besondere Geschichte, der Campus ist eine ehemalige Kaserne, die 1935 und 1936 im Zuge der allgemeinen Aufrüstung errichtet wurde. Wieso findest du es persönlich wichtig, dass daran erinnert wird?

Ich glaube, man braucht eine Wissensbasis, dass es überall in Deutschland und Europa diese Orte der Täter*innen gibt – das können wir machen, mit Stelen oder Vorträgen zum Beispiel. Wir haben hier ein Refugium, in dem wir selbst über die Erinnerungskultur entscheiden können. Lüneburg als Stadt steht uns nicht offen, aber hier auf dem Campus haben wir die Chance, Erinnerungskultur zu schaffen. Mit unserer Projektwoche wollen wir Mitgliedern unserer Universität zeigen, was hier passiert ist, um dafür mehr Awareness zu schaffen. Auch bei den Mitarbeitenden, die ja – anders als wir Studis – nicht nur drei bis fünf Jahre an der Uni sind.

 

Und welche Rolle spielt die „Lange Nacht des digitalen Denkmals“ darin? 

Mit der „Langen Nacht des digitalen Denkmals“ wollen wir einen Kontrapunkt schaffen. Denn wir werden hier am Ort viel über die Täter*innen reden und auch eigene Familiengeschichten dieser Generation in den Fokus rücken. Mit der „Langen Nacht des digitalen Denkmals“ wollen wir dann die Opfer in den Mittelpunkt des Gedenkens setzen. Wie #everynamecounts schon impliziert: Es ist keine anonyme Menschenmasse, sondern es sind Personen, die Namen haben, die vielleicht die gleichen Vornamen oder Geburtsdaten haben wie wir, was eine bessere Verbindung zum Jetzt und zum Persönlichen schafft.

 

Und wie fühlt es sich jetzt für dich an: Die Projektwoche ist aus einer Idee im kleinen Kreis entstanden und jetzt wird daraus eine weltweite Veranstaltung? 

Als ich mir das ausgedacht habe, war das nur im Kleinen gedacht, ja. Deshalb freut es mich natürlich, dass dahinter so ein großer Gedanke von euch steckt. Dass es auch weitergetragen wird, weil noch ganz viel zu tun ist, um die Gesamtheit der Dokumente zu digitalisieren. Ich finde den Gedanken schön, dass Verwandte von den Opfern zu ihrer Familie recherchieren können und ein Stück weiter herausfinden, was in deren Lebensgeschichte passiert ist. Es fühlt sich einfach gut an, dass wir es so weit geschafft haben.

 

… auch weil du ja schon erzählt hattest, dass es im Mai 2020 bereits den Versuch für eine Projektwoche gab, die dann wegen Corona ausfallen musste. 

Ja, aber es ist super schön zu sehen, wie wir uns weiterentwickelt haben, gerade wegen dieser Multiperspektivität. Ich habe ganz viele Bücher darüber gelesen, dass die Täter*innenschaft in der Gedenkkultur, Erinnerungskultur und dem generellen Diskurs eher vernachlässigt wird. Obwohl die meisten von uns Nachkommen von Täter*innen sind, denken 25 Prozent der Deutschen, dass ihre Vorfahren im Widerstand gekämpft haben. Das fanden wir so erschreckend, dass wir uns darauf fokussieren wollten. Aber: Wenn es Täter*innen gibt, gibt es auch Opfer und es ist wichtig, beides zu beleuchten.

 

LangeNachtdesdigitalenDenkmals

Während der langen Nacht des digitalen Denkmals werden wir in einem Virtual Open Archive Dokumente indizieren, die den sprunghaften Anstieg der Häftlingszahlen im KZ Dachau während der Novemberpogrome zeigen. Neben der Verwüstung und Zerstörung von Synagogen, jüdischen Geschäften und Wohnhäusern hatten die Chefs der Gestapo und der Sicherheitspolizei die Verhaftung von rund 30.000 Juden befohlen.

Alle Infos zur Langen Nacht des digitalen Denkmals

 

Worauf freust du dich in der Projektwoche am meisten?

Schwierig zu sagen. Ich freu mich auf ganz vieles, zum Beispiel auf den Workshop mit Oliver von Wrochem, mit dem wir im Bundesarchiv online zu Täterschaft recherchieren. Und dann eben den Kontrastpunkt mit der „Langen Nacht des digitalen Denkmals“. Auf diese „Waagschalen“ freu ich mich sehr, diese Multiperspektivität.

 

Und wie sieht deine Idealvorstellung eurer „Langen Nacht des digitalen Denkmals“ aus? 

Also erstmal natürlich, dass viele Leute kommen. Schön wäre es natürlich, wenn sie nicht nur kurz die Daten in den Computer eintippen und dann gehen, sondern am besten mehrere Stunden bleiben und wirklich die „Lange Nacht“ zur langen Nacht machen. Und dabei miteinander ins Gespräch kommen. Wir bieten auch noch etwas Programm dazu an, Catering, Kurzfilme und so weiter. Ich würde mich freuen, wenn diese Angebote genutzt werden. 

 

Zum Schluss: Dein Aufruf an andere Unis und Hochschulen? 

Macht mit und stellt eure eigene „Lange Nacht des digitalen Denkmals“ auf die Beine, wir helfen euch gerne bei der Durchführung. Ermöglicht es euren Studis, über die Taten des 9. November zu reflektieren und gleichzeitig den Opfern ihre Namen zurückzugeben!

Am Jahrestag der Novemberpogrome wollen wir gemeinsam mit Studierenden, Universitäten und Fachhochschulen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern und ein Zeichen für Respekt, Vielfalt und Demokratie setzen. Mach mit und melde dich gleich an!

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