Die Zeit rennt
Nur noch selten suchen überlebende NS-Opfer bei den Arolsen Archives nach Dokumenten über ihre Vergangenheit. Die meisten Anfragen erreichen uns von ihren Nachkommen – den Kindern, Enkeln, oft sogar schon Urenkeln von Verfolgten. Wonach suchen die Angehörigen? Wie reagieren sie auf die neuen Informationen über das Schicksal ihrer Verwandten? Und warum müssen wir bei diesen Anfragen schnell sein? Ein Gespräch mit Anna Meier-Osiński, Leiterin der Abteilung Tracing, über die Suche der nachfolgenden Generationen.
Warum beschäftigt die Nachkommen das Schicksal ihrer verfolgten Verwandten jetzt noch? Müsste da nicht schon längst jede Geschichte erzählt sein?
Nein, das sieht man auch schon an den Dokumenten in unserem Archiv. Wir haben Informationen über 17,5 Millionen Menschen. Bisher sind Anfragen zu drei Millionen eingegangen. Es gibt also noch viele offene Fragen, selbst wenn man bedenkt, dass oft ganze Familien ermordet wurden und deshalb auch niemand mehr suchen kann. 2019 haben wir 16 000 Anfragen von den nachfolgenden Generationen erhalten. Gerade in Osteuropa und Russland gibt es noch Millionen Familien, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen damals passiert ist. In Polen war fast jede Familie von der NS-Verfolgung betroffen. Kinder und Enkelkinder sind jetzt auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die sie ihren Eltern oder Großeltern nie stellen konnten.
Wie kommen die Menschen bei ihrer Recherche auf die Arolsen Archives?
Viele der Überlebenden haben in ihrer Familie nicht über ihr Schicksal gesprochen. Aber sie haben sich oft um Bescheinigungen über ihre Haft bemüht, um Entschädigungen zu erhalten. Solche Dokumente haben die Arolsen Archives und die Vorgängerinstitutionen ab 1945 ausgestellt. Wenn die Kinder oder Enkel so etwas nach dem Tod der Menschen im Nachlass finden, fragen sie bei uns an und möchten wissen, worum es damals ging. Viele Menschen recherchieren auch selbst nach dem Schicksal von Verwandten, von denen sie vielleicht nur den Namen kennen und wissen, dass sie von den Nazis deportiert wurden. Institutionen auf der ganzen Welt verweisen die Suchenden dann an uns. Oder die Menschen stoßen über ihre eigene Internet-Recherche auf die Arolsen Archives. Auch große Ahnenforschungs-Plattformen wie Ancestry und My Heritage weisen auf uns hin.
Was können diese Anfragesteller dann hier erfahren über ihre Verwandten?
Sie sind häufig sehr erstaunt über die Fülle an Informationen, die hier verwahrt sind. Manchmal können wir sogar lückenlos den Verfolgungsweg rekonstruieren. Oft sind es auch nur einzelne Stationen. Aber auch das sind wichtige Informationen, wenn man nur wenig weiß. Die Nachkommen sehen ihre Verwandten dann oft mit ganz anderen Augen. Manchmal finden Familien durch unsere Dokumente die Gewissheit, nach der sie über Jahrzehnte gesucht haben. 2019 hatten wir den besonders tragischen Fall einer polnischen Familie, in der lange Zeit der Verdacht herrschte, dass der deportierte Großvater sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut hätte. Seine Frau und der Sohn haben ihre Zweifel mit ins Grab genommen. Erst die Enkelin erfuhr von uns, dass der Mann bei einem schrecklichen Massaker der Nazis ermordet wurde. Sie konnte dann seine Grabstätte in Sachsen-Anhalt besuchen. Diese Geschichte zeigt, wie die Zeit rennt bei solchen Anfragen. Ein paar Jahre früher hätten wir seine Frau und den Sohn noch erreicht.
Suchen die Familien immer nach Dokumenten, oder gibt es auch andere Fragen?
Es gibt auch Familien, die nach Angehörigen suchen. Das können Halbgeschwister sein, Cousins und Cousinen oder auch weiter entfernte Verwandte. Durch die NS-Verbrechen wurden hunderttausende Familien auseinandergerissen. Manchmal finden Familien erst heute Hinweise darauf, dass es weitere Überlebende gegeben hat. Auch bei solchen Fragen helfen wir. Wir können auch helfen bei der Suche nach Grabstätten, zum Beispiel von Zwangsarbeitern oder KZ-Häftlingen.
Wie geht es dann weiter mit den aufgeklärten Fällen?
Für viele Angehörige ist unsere Dokumentation nur der erste Schritt. Sie forschen dann weiter mit den neuen Anhaltspunkten, die sie von uns bekommen haben. Familien kommen auch zu uns nach Bad Arolsen, um die Originaldokumente einzusehen, denn die sind häufig die letzte Spur des Verwandten. Die Menschen nehmen dafür weite Reisen in Kauf, zum Beispiel aus den USA oder Australien. Oft besuchen die Angehörigen dann auch die Gedenkstätten an Orten der ehemaligen Konzentrationslager. Und sie nehmen ihre Kinder mit. Das NS-Schicksal wird in der Familie thematisiert und weitergetragen – obwohl viele der Angehörigen zunächst dachten, sie wären nicht betroffen oder sie könnten ohnehin nichts herausfinden.
Wie verändert sich die Arbeit der Arolsen Archives durch diese zahlreichen Anfragen der nachfolgenden Generationen? Was unterscheidet sie von den früheren Anfragen der Betroffenen?
Die Überlebenden selbst haben sich in der Nachkriegszeit um Entschädigung bemüht. Für sie war wichtig, von uns eine Haftbescheinigung zu bekommen. Diesen Menschen musste man nicht erklären, was ein Konzentrationslager ist oder was Zwangsarbeit bedeutet, weil sie dies alles selbst durchleben mussten. Bei den Nachkommen sind die Voraussetzungen unterschiedlich. Die allermeisten Anfragen kommen heute aus Polen, Russland, USA, Australien, Frankreich und Israel. Da ist jeder anders sozialisiert und hat mehr oder weniger Wissen über den Zweiten Weltkrieg in Europa. In Australien zum Beispiel ist das Interesse an der Ahnenforschung hoch, aber das Wissen über diese Zeit sehr gering. Und die wenigsten kennen Details aus den KZs.
Also müssen wir jetzt mehr aufklären?
Genau, denn das Dokument ist „nur“ der Schlüssel zur Vergangenheit, die die Angehörigen erforschen wollen. Dort sieht man, dass der Großvater von 1942 bis 1944 im KZ Dachau gefangen war. Seine Enkel interessiert aber, was das praktisch bedeutet: Wie sah sein Tag aus, welche Arbeit musste er dort leisten, was gab es zu essen? Das Erleben und das Schicksal der Person wird nur durch Kontextinformationen deutlich, die wir jetzt mit den Dokumentenkopien mitliefern. Mit neuen digitalen Angeboten wie unserem eGuide können die Menschen die Dokumente auch selbst entschlüsseln. Solche Möglichkeiten wollen wir in den nächsten Jahren noch viel stärker ausbauen.
Anna Meier-Osiński war bis Anfang 2020 Leiterin der Abteilung Tracing. Seit Februar 2020 arbeitet sie als Outreachmanagerin für die Region Zentral (Polen) und Osteuropa und baut eine Repräsentation der Arolsen Archives in Warschau auf.