Vorwort - Digitales Denkmal

Alles kam ganz anders als geplant - und dabei wurde vieles richtig gut. 2020 war eine Herausforderung für alle Institutionen, die das Gedenken an die Opfer der NS-Verfolgung pflegen. Zum 75-jährigen Jubiläum der Befreiung vom Nationalsozialismus waren viele Erinnerungs-Projekte im öffentlichen Raum angesetzt, die wegen der Pandemie nicht stattfinden konnten. Deshalb haben die Arolsen Archives das Gedenken in die virtuelle Welt verlegt - mit einem digitalen Denkmal für die Verfolgten, an dem jeder mitwirken kann.

Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives

Floriane Azoulay

Zu Beginn des Jahres 2020 startete #everynamecounts als "kleines" Pilotprojekt mit Schulen in Deutschland. Die Rückmeldungen der Teilnehmer waren durchweg positiv und wir konnten uns deshalb gut vorstellen, die Initiative weiter auszubauen. Dass daraus schon einige Wochen später eine weltweite und sehr erfolgreiche Crowdsourcing-Aktion wurde, hatte auch mit dem Ausbruch der Pandemie zu tun. Plötzlich waren alle zu Hause und viele suchten nach einer sinnvollen Beschäftigung. Davon lebt dieses digitale Denkmal für Millionen NS-Verfolgte: Es ist ein Mitmach-Projekt, das nur wachsen kann, wenn viele Menschen ihre Zeit dafür spenden.

Mich hat tief beeindruckt, wie schnell sich tausende Menschen auf der ganzen Welt das Projekt #everynamecounts zu eigen gemacht haben. Hier ist eine richtige virtuelle Community entstanden, in der sich die Freiwilligen ganz aktiv engagieren und austauschen. Dass auch so viele junge Menschen mitmachen und darüber ihren eigenen Zugang zu den Verfolgungsgeschichten der NS-Zeit finden möchten, hat uns gezeigt: Das Thema ist nicht "vorbei". Ich werde nie die Gruppe von Schülern aus Florida vergessen, die uns begeistert davon erzählten, wie sie sich fast täglich online treffen, um gemeinsam an dem Projekt zu arbeiten.

Wir haben unsere Produktivität verbessert
Digitalisierung war 2020 auch über #everynamecounts hinaus wieder ein wichtiges Thema bei den Arolsen Archives. Und auch hier hat die Pandemie gezeigt, wie weit die Organisation in diesem Bereich schon ist. Wir haben es geschafft, fast nahtlos zum komplett digitalen Arbeiten überzugehen. Deshalb gab es auch keinen Bruch in der Produktivität oder bei der Bearbeitung von Anfragen - im Gegenteil: Ende 2020 hatten wir die maximale Wartezeit für die Beantwortung einer Anfrage auf vier Monate reduziert, womit wir unsere Ziele sogar übertroffen haben. Auf diese Leistung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bin ich besonders stolz. 

Natürlich hat dieses schwierige Jahr auch viele weitere Projekte sehr verändert. Unsere #StolenMemory-Wanderausstellung sollte 2020 eigentlich durch ganz Deutschland touren, um auf die Schicksale rund um die persönlichen Gegenstände von KZ-Häftlingen in unserem Archiv aufmerksam zu machen. Sie konnte aber nur an ganz wenigen Orten gezeigt werden. Unsere Programme für Gedenkstätten und Schulen mussten ebenfalls weitestgehend pausieren. Aber auch hier haben unsere Teams die Chance genutzt und digitale Angebote wie die neue Website zu #StolenMemory oder Materialien für den virtuellen Schulunterricht entwickelt.

Mit neuen Partnern die Erinnerung ins Jetzt bringen
Gegen Ende 2020 haben wir viele neue Partner gewonnen, die uns jetzt helfen, #everynamecounts als globale, noch größere Kampagne aufzubauen. Dazu gehören große, internationale Organisationen wie die UNESCO oder Institutionen aus dem Bildungs- und Politikbereich, die uns vorher gar nicht so auf dem Schirm hatten. Sie alle waren begeistert von der Idee des digitalen Gedenkens und schnell überzeugt von den einfachen Möglichkeiten, dabei mitzumachen. 

Im nächsten Jahr freue ich mich besonders darauf, das digitale Denkmal mit diesen tollen Partnern und unserem engagierten Team weiterzubauen. Auf uns wartet richtig viel Arbeit, denn wir müssen die unglaublichen Mengen an Daten, die wir in diesem Projekt schon gesammelt haben, integrieren und in unser Online-Archiv bringen. So werden die Informationen für alle zugänglich und das ist essenziell für unser großes Ziel, die Erinnerung ins Jetzt bringen. Wir möchten die Schicksale der Opfer, von denen unser Archiv erzählt, stärker anknüpfen an die heutige Situation. Denn Rassismus, Antisemitismus und Verfolgung sind nicht Geschichte, sondern weiterhin die tägliche Realität vieler Menschen auf der Welt. 

#everynamecounts

Vom Schulprojekt zur Crowdsourcing-Kampagne

Im Januar 2020 haben 1000 Schüler*innen bei #JederNameZählt mitgemacht und die Dokumente in unserem Online-Archiv mit Tausenden Daten ergänzt, damit sie besser durchsuchbar sind. Wie entstand aus diesem Pilotprojekt die internationale Kampagne #everynamecounts? Welche Meilensteine haben die Arolsen Archives bisher erreicht und was ist künftig geplant?

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» Every name is a pebble to make a memorial.  Every name deserves a kind, sorrowful thought. «

 

» Each card reminds me of how fortunate we are today - we should count our lucky stars every day. We must never forget. Projects like this one are key to ensuring that goal is met. «

 

» As I go through these records I remind myself that every number and name was once the child of loving parents and part of a community. Every name does count! «

 

Freiwillige über #everynamecounts

Arolsen Archives in der Pandemie

Vorreiter beim virtuellen Arbeiten

Die Lockdowns rund um Covid-19 haben auch die Organisation und die Arbeitsumgebung bei den Arolsen Archives sehr verändert. Was die digitale Zusammenarbeit für ein Archiv und seine Mitarbeiter bedeutet, wie wir es geschafft haben, unsere Anfragen während der Pandemie noch schneller zu bearbeiten und warum Online-Meetings manchmal besser sind.

Vorreiter beim virtuellen Arbeiten

 

Abstandsregeln, Lockdowns und Ansteckungsgefahr gingen 2020 an fast keiner Organisation spurlos vorüber. Aber was bedeuten digitales Arbeiten und Home-Office eigentlich für eine Institution wie die Arolsen Archives? Wie kommen wir an die Originaldokumente aus unserem Archiv, wenn wir nicht mehr vor Ort sind? Was machen Mitarbeiter*innen, deren Projekte durch die Pandemie gestoppt oder eingeschränkt sind? Steffen Baumheier, Stellvertretender Direktor, und seine Kolleg*innen erzählen, wie die Institution sich auf das Arbeiten unter Pandemiebedingungen umgestellt hat.

 

Steffen Baumheier

"Anfang März telefonierte ich auf dem Rückweg aus dem Urlaub noch mit unserem Abteilungsleiter Zentrale Dienste zur Covid-19-Situation und unserem Umgang damit", erzählt Steffen Baumheier. "Eher scherzhaft habe ich mich verabschiedet mit 'Wir sehen uns dann im Herbst'. Wer hätte gedacht, dass sich das am Ende bewahrheiten würde?" Die Mitarbeiter*innen der Arolsen Archives sollten schon ab dem 9. März größtenteils im Homeoffice arbeiten. Unsere Dauerausstellung und auch die Bibliothek wurden geschlossen und alle Besuche vor Ort abgesagt. 

 

Mehr Flexibilität im Home Office

Dank eines unermüdlichen Einsatzes der IT-Abteilung konnten ab Mitte März schon fast alle Mitarbeiter ihre Aufgaben von Zuhause aus erledigen. „Wir wollten eine sichere Arbeitsumgebung schaffen und gleichzeitig Flexibilität ermöglichen. Deshalb haben wir auch eine Vertrauensarbeitszeit eingeführt“, erklärt Steffen Baumheier. „So kann sich jeder seine Zeit zwischen Arbeit, Homeschooling und anderen Aufgaben selbst einteilen.“ Damit haben die Arolsen Archives unter den öffentlichen Institutionen eine Vorreiter-Rolle eingenommen und werden oft nach Tipps und Tricks zum virtuellen Arbeiten gefragt. Denn auch die Produktivität der Institution kann sich sehen lassen, wie die reduzierte Bearbeitungszeit für Anfragen zeigt. Obwohl die Zahl der Anfragen nach individuellen Schicksalen von NS-Opfern weiter gestiegen ist, konnten sie in diesem Jahr 1,5 mal schneller bearbeitet werden.

Glücklicherweise hatten die Arolsen Archives schon einen digitalen Vorsprung: Der Großteil des Archivbestandes ist bereits digitalisiert und viele Abteilungen haben auch zuvor schon fast komplett digital gearbeitet. Deshalb gab es bei der Umstellung kaum Reibungsverluste. Hiltrud Bitter, Leiterin der Personalabteilung, war froh, dass ihr Bereich kurz vor der Pandemie noch ein digitales Personalmanagementsystem eingeführt hatte: "Digitale Prozesse in diesem System sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Personalarbeit – alles wird effizienter und ist nicht mehr so zeit- und ortsgebunden. Das kommt uns in Pandemie-Zeiten zugute."

 

Neue Kommunikationskultur bei den Arolsen Archives

Die Kommunikation der Mitarbeiter*innen untereinander findet ebenfalls fast nur noch virtuell statt. In Zoom-Konferenzen und Chat-Gruppen treffen die Teams sich regelmäßig, um sich über ihre Aufgaben auszutauschen – und manchmal auch, um „gemeinsam“ mittagzuessen oder den Feierabend einzuläuten. Steffen Baumheier hat seither sogar einen engeren Kontakt zu den Mitarbeiter*innen: „Ich nehme an so vielen Meetings teil wie nie zuvor und bin stärker eingebunden. Durch die virtuelle Zusammenarbeit hat sich bei uns auch eine bessere Kommunikationskultur etabliert. Ich habe das Gefühl, dass viele Kolleg*innen ihre Standpunkte jetzt klarer darlegen und sich offener untereinander austauschen.“

Nicht nur die Zahl der Online-Meetings zeigt, dass ein guter Austausch jetzt noch wichtiger ist: "Die Pandemie hat uns gezeigt, dass der Kommunikationsbedarf in Krisenzeiten höher ist. Der Informationsfluss hat sich deutlich ausgeweitet und auch beschleunigt", erklärt Personalchefin Hiltrud Bitter. Stefan Burgheim, Online Manager bei den Arolsen Archives, hat deshalb kurzerhand den Launch einer Social-Intranet-Plattform - eigentlich für Monate später geplant - in den März vorgezogen. Mit COYO können die Mitarbeiter nun am Rechner oder Smartphone chatten, virtuelle Communities zur Zusammenarbeit gründen, Dokumente austauschen und vieles mehr. "Das wurde von Anfang an sehr gut angenommen. Jetzt sind täglich mehr als 70 Prozent der Mitarbeiter auf COYO aktiv", sagt Stefan Burgheim.

Die meisten Mitarbeiter der Arolsen Archives nutzen ihre neue Intranet-Plattform COYO fast täglich.

 

Dokumente indizieren von zu Hause aus

Als wahrer "Glücksfall" während der Pandemie hat sich die Crowdsourcing-Initiative #everynamecounts erwiesen, die im Januar 2020 als Pilotprojekt mit 1000 Schülern startete. Im März wurde diese Aktion für alle Mitarbeiter*innen geöffnet, die im Home Office kurzfristig  oder auch dauerhaft nicht ihrer eigentlichen Tätigkeit nachgehen konnten. Das gilt vor allem für die Teams aus Archivtechnik und Digitalisierung, die Originaldokumente scannen, bearbeiten und digitalisieren und für diese Arbeit die Technik vor Ort brauchen.

Sie haben stattdessen auf der Crowdsourcing-Plattform Zooniverse Zehntausende Dokumente indiziert (das heißt, mit wichtigen Informationen wie Namen, Daten und Orten verschlagwortet) und damit den Weg bereitet für die internationale Ausweitung der Kampagne ab April 2020. Auf die Originaldokumente können die Mitarbeiter*innen der Arolsen Archives übrigens trotzdem noch zugreifen: Die Archivtechnik hat einen Notdienst eingerichtet, der vor Ort hochauflösende Scans anfertigt - zum Beispiel, wenn ein Dokument für die Beantwortung einer Anfrage benötigt wird. 

 

Online-Veranstaltungen ersetzen Besuche vor Ort

Für alle, die das Archiv in diesem Jahr für einen persönlichen Austausch vor Ort besuchen wollten, musste die Institution sich neu aufstellen. Normalerweise empfangen die Arolsen Archives jährlich Hunderte Gäste aus der ganzen Welt, von Forschern über Angehörige von NS-Opfern bis hin zu Journalisten. 2020 kam fast niemand nach Bad Arolsen. Stattdessen haben wir viele virtuelle Veranstaltungen wie Lesungen, Konferenzen und Webinare angeboten, die auch sehr gut angenommen wurden. Dazu gehört die Online-Konferenz „Deportationen im Nationalsozialismus“ mit 250 Teilnehmer*innen im November 2020 – die Historikerin Andrea Löw (stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München) hat uns in einer Video-Botschaft von ihren Erfahrungen bei der Veranstaltung berichtet:

 

 

Auch die Mitarbeiter*innen im Bereich Forschung und Bildung entwickelten neue virtuelle Formate, mit denen Bildungs- und Mitmach-Angebote wie #everynamecounts auch im digitalen Schulunterricht genutzt werden können. Zudem fanden Netzwerktreffen mit anderen Gedenkstätten oder die Jahressitzung des Internationalen Ausschusses, der die Arbeit der Arolsen Archives überwacht, fast komplett online statt (Screenshot der Sitzung siehe Titelbild dieses Beitrags links).

 

Der digitale Bewerber

Marina Sauerland

Rein virtuell ging es auch beim Recruiting neuer Mitarbeiter*innen zu. 2020 haben die Arolsen Archives zahlreiche Talente und Fachkräfte eingestellt. Fast alle haben über Social Media von der Institution und ihren Stellenangeboten erfahren. Die Vorstellungsgespräche fanden ausschließlich im virtuellen Raum über Zoom statt. "Digitale Bewerbungsgespräche haben viele Vorteile", sagt Hiltrud Bitter. "Wir sparen Zeit und können die Termine flexibler gestalten. Über die Webcam gewinnen wir einen guten Eindruck von Mimik, Gestik, Ausdruck und Körperhaltung von Bewerbern und somit von ihrer Persönlichkeit."

Auch Marina Sauerland hat ihre Vorstellungsgespräche und ihre Einarbeitung komplett virtuell absolviert. Sie startete im Mai 2020 bei den Arolsen Archives als Fundraising Officer. Es ist Marinas erster Job nach dem Studium und sie hat bisher fast keine ihrer Kolleg*innen persönlich kennengelernt: "Die Einarbeitung hat trotzdem gut geklappt und wir bringen unsere Projekte voran, weil wir uns gut austauschen. Arbeiten in Zeiten von Corona ist einfach anders, aber nicht unbedingt schlechter."

 

Von Bad Arolsen in die Welt

Für die Arolsen Archives hebt sich durch das virtuelle Arbeiten auch ein Standortnachteil auf. "Wir wollen künftig den öffentlichen Diskurs über Rassismus und Antisemitismus mitbestimmen und mit Kampagnen wie #everynamecounts eine neue globale Erinnerungskultur schaffen. Dafür brauchen wir internationale Fachkräfte aus Wissenschaft, kultureller Bildung oder Eventmanagement - Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt nicht ins 'nordhessische Nirgendwo' verlegen wollen", so Steffen Baumheier. Deshalb haben die Arolsen Archives schon vor der Pandemie begonnen, mehr Flexibilität und neue Arbeitsformen zu ermöglichen. Das Jahr 2020 hat diesen Prozess beschleunigt: "Wir richten uns jetzt auf einen anderen Regelbetreib mit viel virtueller Zusammenarbeit ein", erklärt der stellvertretende Direktor. "Auch, wenn sich unsere Präsenz vor Ort wieder erhöhen wird: Fünf Tage die Woche in Bad Arolsen ist nicht mehr notwendig. Als digitales Denkmal wollen wir auch digitales Arbeiten anbieten. Das wird unseren Horizont weit über Bad Arolsen hinaus öffnen." 

#StolenMemory Wanderausstellung

#StolenMemory digital und "on the road"

Mit einem Übersee-Container als Ausstellungsraum ging #StolenMemory im Sommer 2020 auf Deutschland-Tour. Unterstützt durch virtuelle Angebote wie eine Augmented-Reality-App erinnert die Wanderausstellung an die Schicksale ehemaliger KZ-Häftlinge. Die Besucher sollen auch selbst aktiv werden und bei der Rückgabe der persönlichen Gegenstände von Häftlingen an ihre Familien helfen. 

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Digitales Lernen

Geschichte - interaktiv und virtuell

Mit digitalen Bildungsformaten können Lehrer*innen und Schüler*innen nicht nur der Pandemie trotzen, sondern langfristig einen modernen, offenen und interaktiven Unterricht gestalten. Das wollen auch die Arolsen Archives unterstützen. Katharina Menschick und Sabine Moller sind bei uns für digitale Lernangebote zuständig und berichten im Interview über ihre Erfahrungen bei der Entwicklung neuer Inhalte.

Geschichte - interaktiv und virtuell

Als Expertinnen für digitale Bildung kamen Katharina Menschick und Sabine Moller im Herbst 2020 ins Team der Arolsen Archives. Ihr erstes gemeinsames Projekt: Eine digitale Einführung, speziell für Schüler*innen, die bei unserer Crowdsourcing-Kampagne #everynamecounts mitmachen möchten. Hier erzählen sie uns, wie sie bei der Entwicklung des Formats vorgegangen sind, was digitales Lernen für die historisch-politische Bildung bedeutet und welche Angebote als nächstes geplant sind.

 

Warum wolltet ihr gerade bei den Arolsen Archives Konzepte für digitale Bildungsprojekte entwickeln und umsetzen?

Sabine: Nach vielen Jahren Forschung und Lehre über das Verhältnis von Medien und Geschichtsbewusstsein hatte ich den Wunsch, nicht nur theoretisch zu arbeiten, sondern selbst etwas zu entwickeln. Die Arolsen Archives sind eine von ganz wenigen Institutionen, bei denen man digitale Bildungsangebote für Geschichte konkret mitgestalten kann. Die Online-Zugänglichkeit des Archivs hat mich besonders fasziniert. Außerdem überschneidet sich eine Hauptaufgabe der Organisation – die Beantwortung von Anfragen zu den Schicksalen von NS-Verfolgten – mit meiner bisherigen Forschungsarbeit zur Bedeutung von Familienerinnerungen an die NS-Zeit. Ein großer Teil der Anfragen an die Arolsen Archives stammt von Angehörigen von NS-Verfolgten. So entstand meine Idee, hier Distanzlernkurse für Familienforscher*innen zu entwickeln. Mit diesem Projekt habe ich mich auch beworben. 

Katharina: Ich habe ein Podcast-Projekt zur Erinnerung an homosexuelle Verfolgte eingereicht. Mit dem Online-Archiv der Arolsen Archives hatte ich vorher schon oft für Recherchen gearbeitet und auch #everynamecounts kannte ich und war sehr beeindruckt davon. Für mich ist die riesige Verantwortung besonders wichtig, die mit einem so zugänglichen Archiv einhergeht. Die Frage "Wie sollen wir erinnern und was bedeutet dieses Erinnern heute?" wird ja oft ausschließlich theoretisch behandelt. Aber in den Arolsen Archives stellt sie sich ganz konkret, denn es gibt diese Millionen Dokumente und sie sind jetzt online verfügbar. Mit digitalen Vermittlungsangeboten können wir sie kontextualisieren und einen Diskurs darüber anregen, was sie heute bedeuten – und das finde ich sehr wichtig.

 

Gibt es schon geeignete Formate, an denen ihr euch orientieren oder die ihr weiterentwickeln könnt?

Sabine: Einerseits konnten wir an die bereits bestehenden digitalen Angebote der Arolsen Archives – wie etwa den e-Guide und das Online-Archiv – anknüpfen. Durch die Pandemie sind außerdem viele neue interessante digitale Angebote entstanden, etwa durch das USHMM, das neue interaktive Lerninhalte zum Holocaust bereitgestellt hat. Und die Arolsen Archives sind ja ebenfalls an Projekten beteiligt, die Dokumente in interaktiven Lernumgebungen für Schüler*innen bereitstellen, wie beispielsweise die I-Witness-Plattform der USC Shoah-Foundation. Mit der Pandemie ist aber eben auch deutlich geworden, wieviel noch fehlt. Gerade im Bereich der Geschichtsvermittlung gibt es nur wenige Angebote, die für das reine Distanzlernen funktionieren. Die meisten Formate brauchen Multiplikator*innen oder Lehrer*innen. 

Katharina: Wir nehmen auch oft an Veranstaltungen zum Thema teil und haben uns mit Kolleg*innen vernetzt, mit denen wir über technische Fragen und geeignete Formen der Vermittlung diskutieren. Ein gutes Beispiel dafür war die internationale Winterschool „Nazi Forced Labor: History and Aftermath“, die wir 2020 in Kooperation mit dem Dokumentationszentrum NS Zwangsarbeit in Schöneweide online angeboten haben. In einem Workshop konnten wir uns dort mit Kolleg*innen aus ganz Europa über digitale Methoden in der Gedenk- und Bildungsarbeit austauschen. Dabei ist auch besonders deutlich geworden, dass es ein großes Bedürfnis gibt, digitale Formate in der historisch-politischen Bildung nicht nur einzusetzen, sondern auch zu reflektieren. 

 

Wie gut lassen sich denn Geschichte und politische Themen überhaupt digital vermitteln? Was muss man dabei beachten?

Sabine: Im Geschichtsunterricht geht es um die Interpretation von Quellen und um Werturteile. Die Inhalte sind viel schwieriger zu operationalisieren als beispielsweise bei Mathematik oder Naturwissenschaften, wo man Multiple-Choice-Formate einsetzen kann. Bei der historisch-politischen Bildung geht es nicht allein um Richtig oder Falsch. Das reine Abfragen von Jahreszahlen ist nicht mehr zeitgemäß. Wir möchten, dass Lernende sich intensiv mit den historischen Quellen auseinandersetzen. Unsere Inhalte und Formate müssen sich darüber hinaus auch zur Vermittlung von "Digital Literacy" eignen. Dabei geht es um die Kompetenz, mit Hilfe von digitalen Medien Wissen zu erwerben, die Quellen und Vermittlungsformen aber auch in ihrer Medialität zu erkennen und zu reflektieren.

Katharina: Bei der Entwicklung der digitalen Einführung für #everynamecounts haben wir versucht, genau das anzubieten. Es sollte für Schulen möglichst einfach werden, an der Initiative mitzuwirken und wichtige Kontextinformationen zu den Dokumenten zu erhalten. Für die Lehrer*innen haben wir deshalb auch zusätzlich eine Anleitung veröffentlicht, die sie dabei unterstützen soll, #everynamecounts in den Schulunterricht einzubinden. 

 

Wie seid ihr bei der Entwicklung vorgegangen?

Katharina: Wir haben in einem Vierer-Team zusammen mit Henning Borggräfe und Christian Höschler gearbeitet und zunächst ein Dokument ausgesucht, das im Mittelpunkt der Einführung steht: Den sogenannten Häftlingspersonalbogen aus dem KZ Buchenwald zu Sigfried Schneck, der als Sinto im Alter von 15 Jahren deportiert und ermordet wurde. In der Lernanwendung zeigen wir, was das Dokument über sein Schicksal aussagt. Gleichzeitig weisen wir darauf hin, dass es sich um ein Dokument aus dem Verfolgungskontext handelt und damit die NS-Ideologie widerspiegelt. Um dieses Dokument herum haben wir unser Konzept erstellt – mit der Vorgabe, dass die Anwendung eine Einführung in #everynamecounts bieten und dabei möglichst viele Informationen über die Entstehung und Bedeutung der Dokumente vermitteln soll. Dann haben wir eine Technologie für die Umsetzung gesucht und uns für eine E-Learning-Software entschieden, mit der wir auch in Zukunft Online-Lernanwendungen erstellen können. Es war uns wichtig, auch im Bereich der digitalen Bildung möglichst nachhaltig zu arbeiten.

 

Und wie kommt die digitale Einführung bei den Nutzern bisher an?

Sabine: Wir haben gute Rückmeldungen von Multiplikator*innen und Lehrer*innen bekommen. Viele haben gesagt, dass sie durch die Einführung unsere Dokumente besser verstehen und sie mit #everynamecounts gut in ihre Bildungsarbeit einbinden können. Die Schüler*innen sind ohnehin meistens begeistert von dem Projekt - sie zeigen sich sehr interessiert und haben viele Fragen dazu. Mit ihnen gehen wir jetzt in eine Evaluationsphase, in der wir noch genauer verstehen wollen, wie ihnen die digitale Einführung bei der Mitarbeit an #everynamecounts hilft. Wir wollen wissen, was wir daran noch verbessern können, auch im Blick auf künftige Kampagnen für Schulen.

 

Welche Projekte stehen bei euch als nächstes an? Werdet ihr auch die Bildungsangebote umsetzen, mit denen ihr euch bei den Arolsen Archives beworben habt?

Sabine: Genau - ich möchte ein Recherche-Tool für Familienforscher*innen aufbauen. Das wird ein langfristiges Angebot, das global funktionieren und eine große Bandbreite an Interessierten ansprechen soll. Und natürlich werden wir die Bildungsarbeit rund um #everynamecounts weiter begleiten: Die digitale Einführung anpassen, neue Dokumententypen integrieren und Distanzlernkurse entwickeln, die an das Projekt anschließen können. 

Katharina: Ich werde auch an meinem Bewerbungs-Projekt zur Erinnerung an queere NS-Verfolgte weiterarbeiten. Dazu will ich einen Podcast entwickeln, um dieses Medium auch allgemein für unsere Vermittlungsarbeit zu erproben. Den Podcast möchte ich mit einem digitalen Auftritt verbinden, wo man die Inhalte nachlesen kann und zusätzliche Informationen bekommt.


Katharina Menschick

hat an der Universität Wien Internationale Entwicklung und Politikwissenschaft studiert und ging danach als Fulbright-Stipendiatin an die City University of New York, um dort einen Master-Studiengang in Geschichte und Literatur zu absolvieren. In ihrer Masterarbeit hat sie sich unter anderem mit Digital Mapping befasst. Bevor Katharina zu den Arolsen Archives kam, arbeitete sie für das Archiv des New Yorker Leo Baeck Instituts für deutschsprachige jüdische Geschichte.

 

 

Sabine Moller

studierte Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften in Hannover. Nach ihrer Doktorarbeit zu Familienerinnerungen an die NS-Zeit in Ostdeutschland untersuchte sie die Aneignung und Weitergabe von Zeitgeschichte (z.B. durch Ausstellungen, Denkmäler oder Filme) am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg und an der Stanford University School of Education. Nach ihrer Habilitation in Geschichtsdidaktik am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und einer Ausbildung zur UX Designerin widmet sie sich nun der Gestaltung von digitalen Anwendungen zur Zeitgeschichte.

Freiwillige Helfer

Detektivarbeit im Auftrag der Erinnerung

In vielen Ländern unterstützen Historiker und andere Freiwillige die Arolsen Archives bei der Suche nach Familien ehemaliger KZ-Häftlinge, deren persönliche Gegenstände noch im Archiv aufbewahrt werden. Sie führen für uns intensive Vor-Ort-Recherchen durch und suchen die Familien persönlich auf.

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Datenmanagement

Wichtige Schritte in die digitale Zukunft

Ein neues, modernes Datenmanagement-System für unsere Dokumente unterstützt den Weg der Arolsen Archives zu einem digitalen Denkmal, das wichtige Daten über die Schicksale von Millionen Opfern der NS-Verfolgung leicht zugänglich machen wird.

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